Das große Noch nicht/Nicht mehr – Warum man nicht nur Epidemien immer zu spät sieht?

Heute, an einem Montagmorgen, 10 Uhr, sprach mein Apotheker, den ich um Impfstoff gegen Pneumokokken gebeten hatte – Freitagabend hatte mein Sohn dazu geraten, ich bin über 70, Risikogruppe, zumal in Corona-Zeiten sollte ich … –, also, mein Apotheker sprach: „Um 9 Uhr habe ich den letzten verkauft, im ganzen Hamburger Raum gibt es keinen mehr, wir waren die letzte Apotheke, die noch welchen hatte, die Leute sind von Elmshorn und Quickborn gekommen. Erst im Mai wieder.“ Na super, es ist Mitte März. Der Rat meines Apothekers, hold lächelnd: „Lassen Sie sich nicht anstecken.“ Genau. Und im Zweifel das Richtige tun.

„Epidemien sieht man immer zu spät“: Das habe ich einmal in einem kleinen Buch geschrieben, das hieß: „Noch nicht/Nicht mehr. Wir Virtuosen des versäumten Augenblicks.“ Epidemien machen in ihrem Verlauf ein vielfältiges Noch nicht/Nicht mehr durch:

  • Erst sieht man sie noch nicht, oder: Erst muss man noch nichts tun, dann kann man nichts mehr machen.
  • Vorher kann man sich noch nicht – nicht wirklich – rüsten, dann geht es nicht mehr (denn nun fehlt es, wem sage ich das, an Gesichtsmasken, Schutzanzügen, Einweghandschuhen, Tests, Betten, Intensivstationen, Personal und sogar Wattestäbchen).
  • Gestern standen diese Spezial-Intensivstationen zum Teil leer, heute (oder morgen) gibt es viel zu wenig.
  • 6 oder 7 Tage lang merken die Leute noch nichts von ihrer Infektion, dann nützt es denen nichts mehr, die sie inzwischen infiziert haben. (Am 17.3.2020 gibt es in Deutschland etwas über 6000 bestätigte Corona-Fälle. Die mittlere Schätzung tatsächlicher Fälle liegt bei knapp 100 000, also mehr als zehnmal so hoch – das heißt: Es gibt ca. 94 000 Leute, die, über den Daumen gepeilt, innerhalb weniger Tage noch jeweils 2 oder 3 weitere anstecken können.)
  • Impfstoffe und Heilmittel gegen das neue Virus kann man erst noch nicht entwickeln – es ist ja neu –, und dann ist die Epidemie zur Pandemie geworden.
  • Erst kennen wir Infektionswege, Symptome, Krankheitsverläufe, Sterberaten etc. noch nicht, dann …
  • Erst werden Politiker und andere der Panikmache geziehen, dann der Zögerlichkeit.

Und so fort.

Noch nicht/Nicht mehr, das ist conditio humana

Kein Trost wird es Ihnen sein, wenn ich Ihnen sage: Noch nicht/Nicht mehr, das ist conditio humana. Daraus besteht das halbe Leben. Manchmal ist es tückisch, zum Beispiel, wenn Sie nach der Seife in der Badewanne greifen und sie erst noch nicht erwischen, weil sie, getrieben von Ihrem Zugriffsversuch, davonschwebt, und dann nicht mehr, weil sie Ihren zupacken-wollenden Fingern entgleitet.
Oder, ernster: Erst merkt man nichts von Erderwärmung, wenn man es aber merkt, ist es (vielleicht) zu spät. Manchmal ist es auch hilfreich, etwa, wenn das Prinzip der Verwaltung, wie mich meine Mutter lehrte, lautet: „Es gibt nichts, das sich nicht durch längeres Liegenlassen von selbst erledigt“, denn dann braucht man es erst noch nicht und dann nicht mehr anzupacken.

Legen Sie sich einen gewissen „noch-nicht-nicht-mehr-spezifischen“ Fatalismus zu

Also: Das halbe Leben besteht aus so etwas, Epidemien sind da „nur“ ein besonders krasser Fall. Sie sollten sich daher ohnehin darin üben, in derlei hineinfinden, sich dafür wappnen, und zwar mit einer – nur davon spreche ich hier – gewissen Haltung: schon vorher mit Nachsicht, sich selbst und anderen gegenüber. Das, versteht sich, ändert nichts an den Verlaufszahlen und mag Ihnen hilflos erscheinen, aber da das Noch nicht/Nicht mehr unser unentrinnbares Schicksal ist, ist es besser als nichts. Medizinischen Rat kann ich, Betriebswirt und Organisationstheoretiker, Ihnen ohnehin nicht geben, aber was die Zeitfalle des Noch nicht/Nicht mehr angeht, rühme ich mich einer wenn auch dilettantischen Expertise.
Also: Legen Sie sich nicht einen generellen, aber einen gewissen, noch-nicht-nicht-mehr-spezifischen Fatalismus zu. So etwas kann man nicht beschließen? Sagen Sie das nicht. Seien Sie geduldig, üben Sie sich in Nachsicht gegenüber den Ärzten, Sprechstundenhilfen, Pflegerinnen und Pflegern, Apothekern, Krankenhäusern und sogar den Politikern, die es kaum einem recht machen können. Sie alle können nichts für das Tempo, um nicht zu sagen: die Unvermitteltheit, mit der das Noch Nicht ins Nicht Mehr umschlägt.

Und wenn Sie noch mehr Haltung zeigen wollen, lassen Sie sich von den Römern und Neapolitanern inspirieren. Die römische Straßenband FanfaRoma appellierte auf Facebook: „Öffnen wir die Fenster, zeigen wir uns auf den Balkonen, und stimmen wir zusammen ein, auch wenn wir weit voneinander entfernt sind.“ Der Appell, schreibt die Süddeutsche Zeitung, ging schnell – Achtung: – viral. In Crotone haben sie „Nel blu dipinto di blu“ gesungen, Sie wissen schon: „Volare“, Hymne der Lebensfreude, und in Neapel „Abbracciame“, ein Lied voller Herzschmerz, Appell an – darf man das Wort in den Mund nehmen? – Solidarität. „Abbracciame“ heißt, das nur nebenbei: „Umarme mich“. Ist das nun nicht, in Zeiten der Epidemie, von untergründig-trotziger Heiterkeit?



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