Corona

Wovon wollen wir leben? Deutschland 20 Jahre nach Corona

Corona setzt Deutschlands Wirtschaft unter Druck: Exporte brechen ein, Betriebe schließen, Geschäftsmodelle sind in Frage gestellt. Die Krise beherrscht die öffentliche Debatte und bestimmt das Handeln von Politik und Unternehmen. Vielfach wird nur noch auf Sicht gefahren. Gerade in solch einer Situation ist es wichtig, über die aktuelle Lage hinaus zu schauen. Bestimmende Zukunftsfaktoren und relevante Trends können sonst aus dem Blick geraten. Sechs aktuelle Szenarien zeigen jetzt, wie sich die Soziale Marktwirtschaft bis ins im Jahr 2040 entwickeln kann und worauf wir jetzt achten müssen.

Am 15. Dezember 2020 besteht die Möglichkeit, in unserem interaktiven Format „WIRtschaften 2040 – Wachstum, Wohlstand und Teilhabe nach Corona“ mit Michael Hüther vom IW, Sebastian Dullien (IMK) und anderen über die Szenarien und die Zukunft des Wirtschaftsstandortes Deutschland zu diskutieren. Anmelden können Sie sich hier.


 

In unserem Projekt „Produktivität für inklusives Wachstum“ beschäftigen wir uns nicht nur mit der spezifischen Frage, wie Deutschland in der Breite wieder produktiver werden kann, also wie z. B. der deutsche Mittelstand wieder anschließen kann an die innovative Spitze von Forschung und Entwicklung. Wir befassen uns auch immer wieder mit der grundsätzlichen Frage danach, vor welchen Herausforderungen das deutsche Wirtschafts- und Gesellschaftsmodell, also die Soziale Marktwirtschaft, steht.

Eine Möglichkeit, dies zu tun, besteht darin, bekannte Trends fortzuschreiben. So wissen wir etwa und können auch in Teilen absehen, in welche Richtung sich der demographische Wandel oder die Digitalisierung als „träge“ Prozesse entwickeln. Es lässt sich auch erahnen, welche Effekte bestimmte Zustandsveränderungen dieser Trends auf andere Faktoren haben können. Will man hier ökonometrisch arbeiten, ist man jedoch zurückgeworfen auf einfache Beziehungen zwischen zwei Faktoren und deren Wechselwirkung. Komplexere Geflechte sich gegenseitig beeinflussender Faktoren oder unerwartete Ereignisse, wie zum Beispiel der Ausbruch einer weltweiten Pandemie, kommen in solch einem Setting gar nicht erst in den Blick.

Back to a more complex Future …

Im Sommer 2019 entschieden wir, einmal einen anderen Weg zu gehen und uns auf ein Experiment einzulassen. Wir wollten das „ganze Bild“ in den Blick nehmen. Wir wollten mithilfe eines qualitativen Prozesses herausfinden, wie sich die mittelfristige Entwicklung der deutschen Volkswirtschaft im komplexen Zusammenspiel einer Vielzahl von Faktoren darstellen kann. Wir wollten zumindest ansatzweise den Raum möglicher Zukünfte für die Soziale Marktwirtschaft abstecken, um besser verstehen zu können, wo die eigentlichen Herausforderungen, und damit die jetzt dringlichen Gestaltungsaufgaben liegen.

Vor diesem Hintergrund luden wir im Sommer 2019 (als noch niemand von Corona gehört hatte) 28 junge Verantwortungsträger:innen aus Wirtschaft, Politik, Verwaltung und den Medien aus ganz Deutschland ein, auf das Jahr 2040 zu schauen. Unsere Leitfragen für den Prozess „WIRtschaften 2040“ lauteten: Wie werden sich die Strukturen des Wirtschaftsstandortes Deutschland verändern? Wovon werden wir in 20 Jahren leben? Wer gewinnt in der Gesellschaft durch diese Veränderungen, wer bleibt zurück?

… und plötzlich kam Corona

Unterstützt durch das IW Köln, das IMK der Hans-Böckler-Stiftung und das Fraunhofer ISI machte sich die Gruppe im September 2019 auf den gemeinsamen Weg. Ein mehrstufiger Prozess und mehrmonatige Arbeit lagen vor der Gruppe. Der Beginn der Coronakrise fiel mitten in diesen Prozess und lies uns inmitten der Beschäftigung mit der Zukunft spüren, wie stark wir nicht nur von fortlaufenden Trends sondern auch von zum Teil sprunghaften Veränderungen, unvorhersehbaren Krisen und einschneidenden Ereignissen abhängen. Die Coronakrise wurde im laufenden Prozess in die Szenarien eingearbeitet.

Die sechs Szenarien, die die Gruppe schließlich erarbeitet hat, zeigen, wie sich die Coronakrise zusammen mit anderen Langfristtrends auf den Wirtschaftsstandort und auf das gesellschaftliche Zusammenleben in Deutschland auswirken kann.

Szenario 1: Innovation für eine bessere Welt

Weitreichende technologische Neuerungen sind 2040 der Schlüssel zur Lösung von gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Herausforderungen. Katalysator dafür – technologisch, wirtschaftlich und gesellschaftlich – war die Coronakrise von 2020, die dazu geführt hat, dass massiv in die Wirtschaftstransformation, aber auch in die Medizinforschung und das Gesundheitssystem investiert wurde. Da Deutschland und Europa es geschafft haben, unmittelbar an diesen technischen Entwicklungen beteiligt zu sein, können sie die Ausgestaltung der technischen Entwicklungen und die entstehende Wertschöpfung zur Sicherung des Wohlstands auch 2040 noch nutzen.

Szenario 2: Local Rules

Wirtschaft und Gesellschaft sind 2040 nachhaltig aufgestellt. Es wird insbesondere auf regionale Lösungen gesetzt. Anwendungen im Bereich der schwachen Künstlichen Intelligenz sind allgegenwärtig, der Traum vom Sieg disruptiver Anwendungen im Bereich der Künstlichen Intelligenz hat sich jedoch nicht realisiert. Zudem findet ein umfangreicher ökologischer Umbau von Wirtschaft und Gesellschaft statt, der besonders auf regionale Lösungen setzt und auch durch milliardenschwere Investitionen in Folge der Coronakrise im Jahr 2020 initiiert wurde.

Szenario 3: Träges Deutschland, träge Welt

© Pia Bublies / www.piabublies.de

Deutschland ist geprägt von einer rückwärtsgewandten Stimmung und trägen Prozessen. Das Land hat sich seit der Coronakrise nicht mehr wirtschaftlich erholt. Dringend erforderliche Infrastrukturinvestitionen wurden zugunsten von Renten- und Sozialausgaben zurückgehalten, wirtschaftliche Dynamik hat immer weiter nachgelassen. Innovative Ideen kommen verstärkt aus aufstrebenden Schwellenländern und immer weniger aus Europa und Deutschland. Die Unzufriedenheit auf dem gealterten Kontinent Europa steigt und damit auch der Einfluss populistischer Parteien. Dies hat zur Auflösung der EU und einer Abschottung europäischer Staaten geführt.

Szenario 4: Von außen getrieben

© Pia Bublies / www.piabublies.de

Die Digitalisierung und insbesondere die Künstliche Intelligenz wurden weltweit schnell und erfolgreich weiterentwickelt, allerdings ist Deutschland in dieser Entwicklung hinter den USA und China zurückgeblieben. Wenige Konzerne aus diesen beiden Ländern beherrschen den Weltmarkt. Deutsche Unternehmen haben an Innovationskraft eingebüßt. Das hat massive Auswirkungen auf die Arbeitsmarktsituation. Der Staat, bereits stark herausgefordert durch die Coronakrise Anfang der 20er Jahre, musste reagieren und hatte sich auf die Hilfspakete für die Wirtschaft und die Modernisierung des Gesundheitssystems konzentriert.

Szenario 5: Vereinigte Staaten von Europa

Europa ist nach dem Brexit und der Coronakrise nach 2020 stärker zusammengewachsen und hat den Binnenmarkt vollendet. Eine effektive europäische Industrie-, Wirtschafts- und Fiskalpolitik hat die Wirtschaft beflügelt. Der Sprung in eine Wissensgesellschaft ist gelungen. Mithilfe einer weitreichenden Bildungsreform kann sich Europa als Standort für hochinnovative Unternehmen behaupten. Für die Menschen in Deutschland sind dadurch die Teilhabe-Chancen gestiegen. Eine Bündelung von Kompetenzen und finanziellen Mitteln sowie politische Einflussmöglichkeiten in Europa werden genutzt, um Technologiesouveränität in ausgewählten Bereichen wie dem Gesundheitssystem, der Eindämmung des Klimawandels und beim Umweltschutz mit europäischen Partnern zu sichern.

Szenario 6: Klimakrise – technologischer Wettbewerb auf Kosten der Umwelt

Konsumverhalten und ungebremstes ressourcenverzehrendes Wachstum haben dazu geführt, dass die Ziele des Pariser Klimaabkommens nicht erreicht wurden. Bereits 2040 sind bestimmte „Kippwerte“ überschritten und der Klimawandel gilt als unumkehrbar. Die Auswirkungen entsprechender klimatischer Veränderungen sind 2040 so weitreichend, dass in vielen Bereichen extreme Rahmenbedingungen für Wirtschaft und Gesellschaft herrschen.

Und jetzt?

Die in sich plausiblen Szenarien wollen keine Prognosen sein. Sie umreißen das Feld möglicher Wechselwirkung von zentralen Trends und Ereignissen. Ihre eigentliche Kraft liegt darin, Zielkonflikte und Herausforderungen zu identifizieren, deren Bearbeitung heute angegangen muss, um die Entwicklung eben in die eine oder die andere Zukunftsrichtung zu lenken. Szenarien helfen also und damit die jetzt dringlichen Gestaltungsaufgaben zu identifizieren.

Auch das hat die Gruppe getan. Über alle unterschiedlichen politischen Bewertungen hinweg, haben die Teilnehmer:innen des Prozesses zehn Handlungsempfehlungen formuliert. Dazu gehören die Aufforderung, dass Deutschland eine führende Rolle im technologischen Wettbewerb einnehmen solle ebenso wie die Aufforderung, die physische, digitale und soziale Infrastruktur des Landes zusammen mit der Handlungsfähigkeit der Kommunen zu stärken.



Kommentare

  1. / von Dr. Joachim Bußmann

    Sehr geehrter Herr Schmidt,
    ich habe Ihren Blog „Wovon wollen wir leben?… mit großem Interesse gelesen.
    Ihr Projekt, das „ganze Bild“ im Blick haben, ist der richtige Weg.
    Die 6 Szenarien und 10 Handlungsempfehlungen beinhalten viele Anregungen
    und Leitlinien, die richtigen Wege für die Zukunft in den Violkswirtschaften zu finden. Entscheidend ist das Umsetzen. Daran scheitert vieles!
    Die zentrale Frage nach Corona wird sein: Wachstum ja/nein und wie, unter
    den großen Herausforderungen der Klima- und Umweltkrise und der Digitalisierung!

    Mit freundlichen Grüßen
    Dr. Joachim Bußmann

    1. / von Armando Garcia Schmidt
      zu

      Sehr geehrter Herr Dr. Bußmann,

      haben Sie vielen Dank für Ihren positiven Kommentar. Ich stimme Ihnen zu. Die beiden zentralen Herausforderungen nicht nur für die deutsche Volkswirtschaft sind der Übergang zu einer im umfassenden Sinne digitalen Ökonomie und die Umwelt-/Ressourcenfrage, also der Übergang zu einer im umfassenden Sinne nachhaltigen Ökonomie. Beides sind extrem große Herausforderungen. Und vor allem bzgl. der zweiten, der „großen Transformation“ kann und muss sich auch noch über das richtige Ziel und wie man es messbar machen kann, diskutiert und vielleicht auch gestritten werden. Ganz unabhängig davon aber – auch da haben sie Recht – muss jetzt schon gehandelt werden, und dies in vielen Bereichen: Energiewende, Mobilitätswende u.a. diese „Großprojekte“ werden sich m.E. im Rückblick als die zentralen Treibkräfte oder die wenn sie scheitern als die zentralen Hemmnisse für den Übergang zu einer ressourcenschonenderen Wirtschaftsform erweisen.

      Ich lade Sie herzlich ein, am 15.12. ab 14:00 Uhr mit uns über Deutschland im Jahr 2040 zu diskutieren: https://www.bertelsmann-stiftung.de/de/unsere-projekte/veranstaltungen/veranstaltungsanmeldung/?code=3C8AW9

      Viele Grüße
      Armando García Schmidt

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