Chancengleichheit

Auf die Plätze, fertig, zurück! – Chancengleichheit zwischen Anspruch und Wirklichkeit

Fünf Forderungen für einen gesellschaftlichen Wandel

Mehr denn je stellt sich in den Zeiten der Pandemie die Frage, ob in unserer Gesellschaft überhaupt eine Gleichstellung von Geschlechtern oder Geschlechtsidentitäten existiert. Vor dem Hintergrund des unterschiedlichen persönlichen und beruflichen Entfaltungspotenzials für Männer und Frauen treten Anspruch und Wirklichkeit der Geschlechtergerechtigkeit in unserer Gesellschaft klar zutage.

Frauen verschwinden derzeit immer mehr von der „Bildfläche“. Über die eigentlichen Gründe weiß man derzeit noch wenig. Eine Erklärung liegt jedoch nahe: Homeoffice erleichtert einerseits die Arbeit, andererseits die Vereinbarkeit von Beruf und Familie. Wenn Kinder krank sind, steht die Tür offen – die Mutter kann schnell trösten und kochen und ist in der Nähe. Aber was ist mit dem Versprechen der Gleichstellung der Geschlechter? Meine große Sorge ist, dass durch die Arbeit der Frauen im Homeoffice längst überfällige Reformen an Dynamik verlieren. Anstelle einer längst überfälligen Überarbeitung des Ehegatten-Splittings oder mehr Männern in Elternzeit verfangen wir uns wieder in überwunden geglaubte Geschlechterrollen.

Das Homeoffice als Erfolgsmodell für die Gleichstellung?

Andererseits: Viele der Vorteile aus dem Homeoffice haben die Folge, dass eine verlässlichere und bessere Infrastruktur für Kinder, Jugendliche und Ältere entsteht. Im Homeoffice können die Erwerbstätigen selbst wieder übernehmen und die eventuell vorhandene Not lindern. Hinzu kommt: Das Homeoffice steht den Gebildeten offen. Menschen mit geringerer Bildung arbeiten vor Ort in den Betrieben. Genau diese Menschen sind darauf angewiesen, dass sich die öffentliche Stimme erhebt. Die ohnehin hohe Chancenungleichheit zwischen Kindern verschiedener sozialer Herkunft wird so eher verstärkt.

Das Homeoffice wird meiner Einschätzung nach nicht dazu führen, dass Frauen schneller in Führungspositionen gelangen. Im Gegenteil: Dies sind sogenannte Mummy Tracks, die voraussichtlich dazu führen, dass Frauenkarrieren im mittleren Management enden. Für den Weg in die Führungsposition braucht es heute noch eine Präsenzkultur, sicheres Auftreten und Charisma. All dies funktioniert schlecht vom Homeoffice aus und nur sehr bedingt im Rahmen von Videokonferenzen.

Wenn das Homeoffice ein Erfolgsmodell für die Gleichstellung sein soll, benötigen wir bessere Rahmenbedingungen. Wir müssen dafür sorgen, dass eine Revolution der Heimarbeit stattfindet und sich die Situation von Kindern, Frauen und Männern verbessert. Wir müssen dafür Sorge tragen, dass das Homeoffice nicht überwiegend weiblich besetzt wird. Vielmehr müssen Karrierewege neu gestaltet und transformiert werden. Es braucht eine Klarstellung dessen, was wir von Führung erwarten, wie wir die Zeiten daheim und vor Ort aufteilen können, wie wir die neuen Arbeitsplätze der Zukunft ausstatten und wer die Kosten dafür trägt. Wir müssen komplett umdenken. Wir Menschen sind soziale Wesen. Wir wollen unsere Zukunft neu gestalten. Die Umbenennung von Homeoffice in „Mobiles Arbeiten“ – sowohl für Männer als auch für Frauen – wäre ein Anfang.

Wo können die tragenden Verbindungen jenseits der Erwerbsarbeit entstehen? Wie kann der Zusammenhalt erreicht werden und Vertrauen erzeugt werden? Jedenfalls nicht in einer Unternehmenskultur der Angst, in der Männer sich nicht trauen, ihren Wunsch nach Erziehungsurlaub zu äußern. Oder in DAX-Unternehmen oder auch dem Mittelstand, wo Frauen gar teilweise ihre Schwangerschaft verbergen müssen, damit noch schnell der nächste Karriereschritt gegangen werden kann.

Auf die Plätze, fertig, zurück! So geht es nicht. Nein, vorwärts geht es, und zwar schnell.

 

Forderung 1: Umbau des Ehegattensplittings

Ich fordere daher eine klare familien- und arbeitsmarktpolitische Veränderung. Das Ehegattensplitting gehört dringend umgebaut, etwa in Richtung eines Familiensplittings. Auch geringfügige Beschäftigungsverhältnisse müssen abgeschafft werden. Sie bringen 450 Euro im Monat, führen aber mittel- und langfristig zu deutlichen Renteneinbußen, da sie nicht rentenversichert sind. Gleiches gilt für die kostenlose Mitversicherung. Auch sie erhöht die Abhängigkeit vom Hauptverdiener, meist dem Mann. Und somit auch das Risiko, im Alter ohne ausreichende finanzielle Mittel dazustehen.

Forderung 2: Umverteilung der Care-Arbeit

Die ungleichen Arbeitszeiten von Männern und Frauen ist einer der maßgeblichen Gründe, weshalb Frauen ein geringeres Monats-, Jahres- und Lebenseinkommen und somit auch eine wesentlich geringere Altersrente beziehen. Niedrige Arbeitszeiten laufen selten auf Führungspositionen hinaus. Vielmehr gilt beim Thema Karriere das Motto „Ganz oder gar nicht“. Somit ist der Gender-Care-Gap zementiert. Es führt kein Weg daran vorbei: Es muss eine Umverteilung der Care-Arbeit zwischen Frauen und Männern geben.

Forderung 3: Einführung der Vier-Tage-Woche für alle

Wir brauchen eine Vier-Tage-Woche sowohl für Männer als auch für Frauen. Dazu gehört ein freier Wochentag für beide Elternteile oder eine reduzierte Arbeitszeit verteilt über die Arbeitswoche. Das Ergebnis wäre eine Entschleunigung unserer Arbeitswelt. Gleichzeitig müssen wir Frauen davor schützen, noch mehr Care-Arbeit zu übernehmen. Wir brauchen ein neues Bewusstsein und eine neue Normalität. Wir brauchen Väter, die selbstverständlich Elternzeit nehmen und helfen die Zeitspanne, in der Mütter ihre Erwerbstätigkeit unterbrechen müssen, zu verringern. In nordischen Ländern wie Schweden oder Norwegen wird dies bereits durchgeführt. Dies könnte durch gezielte Kampagnen unterstützt werden, um Stereotypisierungen abzubauen.

Forderung 4: Verbindung von Vereinbarkeit und Gleichstellung

Ich fordere weiterhin, dass die Vereinbarkeit von Familie und Beruf mit Gleichstellung verbunden wird. Wenn wir dies erreichen, wird es keine Diskussionen am Arbeitsplatz mehr geben. Dann brauchen Erwerbstätige ihr gutes Recht nicht mehr mühsam einzufordern, sondern es wird ganz einfach umgesetzt. Es werden weder Väter noch Mütter diskriminiert, die für ihre Kinder zu Hause bleiben. Es wird niemand mehr Schaden erleiden müssen, wenn er sich zu Hause um den Nachwuchs kümmert. Stattdessen wird die Gleichstellung der Geschlechter zur Selbstverständlichkeit.

Forderung 5: Mehr Frauen in Führungspositionen

Nicht zuletzt müssen wir den Anteil der Frauen in Führungspositionen erhöhen. Diese Frauen sind sichtbar und funktionieren als Role Models für unsere Zukunft. Sie kommen aus allen Bereichen der Wirtschaft, Kultur, Politik, Sport und Zivilgesellschaft.
Es gibt genügend fachlich kompetente Frauen, die bereit sind, herausfordernde Führungspositionen und Aufsichtsratsmandate anzunehmen. Es liegt nicht an den Frauen. Es liegt auch hier wieder an den Männern, die an „alten Zöpfen“ festhalten und sich den Veränderungen verweigern. Deshalb benötigen wir immer noch die Quote, um eine Grundlage für eine geschlechtergerechte Welt zu schaffen. Es muss zu einer Umsteuerung unserer Gesellschaft kommen. Dieser Prozess sollte sowohl von Männern als auch von Frauen gestaltet werden. Es geht nur gemeinsam voran. Packen wir es also an.


 

Zu diesem Thema gab es eine kostenlose, offene Zoom-Veranstaltung mit FidAR (Frauen in die Aufsichtsräte e.V.), die Sie sich hier gerne noch anschauen können:

„Alles easy im Job – außer für Frauen?“
vom Dienstag, 25. Januar 2022



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