Ambidextrie bei New Work: Ist Urlaub ein Relikt aus dem 20. Jahrhundert?
Für Onkel Herbert war vor 40 Jahren die Welt noch in Ordnung – besser gesagt: Für ihn hatte die Welt noch eine Ordnung. Er ging morgens in die „Bude“, wie er und seine Kollegen ihren Arbeitgeber, einen Metallbetrieb, mal liebevoll, mal respektvoll, mal flapsig zu nennen pflegten. Und abends ging es dann pünktlich mit der Werkssirene raus. Damals schon mit Werks-Bulli, der die Werktätigen aus den umliegenden Dörfern abholte. Also keine Erfindung von Google + Co. aus der heutigen Zeit.
Und einmal im Jahr, da konnten sich Onkel Herbert und seine Kollegen darauf verlassen, machte man die „Bude“ einfach für 4 Wochen dicht: Betriebsferien. Manche werden sich erinnern: Alle Räder standen still, die Fabrikhallen leer, die Lebensadern aus Energie- und Materialfluss auf ein Minimum reduziert. Sozusagen ein Unternehmen im Sommerschlaf. Mit wenigen Ausnahmen – nämlich die Monteure, die Wartungsarbeiten und Rüstaufgaben in der Zeit zu übernehmen hatten.
Da bleibt schon die Frage, wie das in Zeiten der Digitalisierung gehandhabt wird, in Zeiten der ständigen Erreichbarkeit mit Arbeitszyklen rund um die Uhr und Welt etc.? Gott sei Dank, kann noch nicht alles digitalisiert werden: z. B. Urlaub! Auch wenn manche schon annehmen, er fände zukünftig virtuell auf dem Holodeck zu Hause statt. Aber geht es nicht um etwas ganz Profaneres. „Ist Urlaub in Zeiten von New Work – konsequent weitergedacht – nicht ein Relikt aus dem 20. Jahrhundert?“
Urlaub muss sein! Aber wie sieht er heute aus?
Was mal als launiges Bonmot gedacht und gesagt war, entpuppt sich mittlerweile zu einem kleinen Politikum. „Urlaub muss sein! Ich mache es so: Ich gehe morgens eine Stunde in meine Mails und abends nochmals eine Stunde“ – so lautete die Antwort einer Führungskraft. Was zu beweisen war: Ja, Urlaub muss sein! Und ja, Urlaub sieht heute oft anders aus. Oder verbirgt sich dahinter etwas Anderes: die Ambidextrie in unseren Köpfen zwischen Old School und New Work?
Natürlich gibt es nach wie vor noch Arbeitsplätze wie den von Onkel Herbert mit überschaubaren Arbeitszeiten, festen Schichtplänen mit den ihnen eigenen Rhythmen. Aber an anderen Orten boomt die digitale Arbeitswelt mit agilen Arbeitsmethoden, mit flexiblen Arbeitszeiten, mit mobilen Arbeitsorten, mit modernen Arbeitsräumen, mit neuen Arbeitseinstellungen – eben New Work! Und damit beginnt das eigentliche Dilemma in Organisationen und in vielen Köpfen der Mitarbeitenden.
Denn viele Regelungen und Instrumente für unser Arbeitsumfeld in der Wissensgesellschaft sind noch auf Old School getrimmt, vieles im wahrsten Sinne des Wortes aus dem vorherigen Jahrhundert: angefangen bei Stellenbeschreibungen und Mitarbeiterbefragungen über die Arbeitsschutz- und Arbeitszeitregelungen bis zu so manchen Beteiligungs- und Führungsmodellen. Der technologische Wandel verändert viele Arbeitsplätze – hat sich aber auch etwas in unseren Köpfen verändert?
Viele Führungskräfte klagen bereits über ein interessantes, aber auch gravierendes Phänomen
Mitarbeitende wollen gern agil und flexibel in adäquaten Räumlichkeiten arbeiten, aber gleichzeitig auch die Privilegien von Old School nutzen. Die zwei, drei Wochen Urlaub am Stück, natürlich in der passenden Jahreszeit nehmen dürfen, aber ohne einen vollen Mail-Account danach. Natürlich soll das eigene Projekt in der Zeit ruhen und nicht an jemanden aus dem Kollegenkreis delegiert werden.
Das ist ein Blick in den „Maschinenraum“ vieler Unternehmen. Die Studie „Die flexible Führungskraft“ und Fokusgruppen-Workshops bestätigen: Alles hat einen Preis! In deutschen Unternehmen tut sich etwas. Denn: Der technologische Wandel in den Unternehmen definiert Rechte und Pflichten neu – sowohl zwischen der Führung und den Mitarbeitenden und – oft ignoriert – unter den Mitarbeitenden selbst. Und gleichzeitig wird damit auch Verantwortung neu definiert.
Denn wer im Team oder allein agil, selbstbestimmt, flexibel, mobil, eigenständig arbeiten will, muss sich auch der neuen Verantwortung und möglicher Konsequenzen stellen. Denn die Beteiligten untereinander haben dann zu gewährleisten, dass Kooperation, Kommunikation und Koordination sichergestellt sind. Von der Aufrechterhaltung der Auskunftsfähigkeit, Absprachen zu Urlaubs- und Arbeitszeiten bis hin zu Abwesenheiten oder Home-Office … Konflikte inbegriffen.
Es ist dann in erster Linie nicht mehr Aufgabe der Führungskraft, diese Prozesse zu steuern – in solchen Situationen kann sie sowieso nur verlieren. Was sich dann Kooperationsmanagement nennt, heißt dann für die Mitarbeitenden untereinander oft aktives Auseinandersetzen mit Problemen und offensives Konfliktmanagement. Erst, wenn zum wiederholten Male eine Lösung nicht in Sicht ist, kommt die Führungskraft wieder ins Spiel. Aber diese Entscheidung gilt dann auch!
Andererseits ist es jedoch abstrus, wenn jemand sagt: „Jetzt, wo ich gerade so gut drauf und dabei bin, da könnte ich doch noch ein paar Stunden weitermachen. Dafür könnte ich dann morgen nur halbtags arbeiten“. Warum werden Mail-Accounts ab einer gewissen Uhrzeit abends oder am Wochenende gesperrt, damit sie nach der Sperrfrist geballt im Account auftauchen gemäß dem Motto: „Guten Morgen, liebe Mail-Sorgen, seid ihr auch schon alle da?“.
New Work heißt in erster Linie: New Culture!
Dabei gilt es für Mitarbeitende und Führungskräfte erst einmal für sich selbst zu klären, welcher Arbeitstyp man ist und wie man in der neuen Arbeitswelt agieren will. Um dann zu entscheiden, ob man unter den gegebenen Bedingungen arbeiten will oder kann. Denn es brächte Effizienzverlust und Unmut, einerseits die Vorzüge von New Work in Anspruch zu nehmen, um auf der anderen Seite die Privilegien von Old School zu genießen.
Und HR? Personalarbeit und -entwicklung müssen endlich verstehen, dass damit auch die vielen Standardprogramme in den meisten Organisationen der Vergangenheit angehören. Wie in „Die Akte Personal“ gefordert gilt: Gebt dem Unternehmen was es braucht und nicht was es will! Und das sind in erster Linie der Ausbau individueller, moderner Lebens- und Karrieremodelle für Mitarbeitende und vor allen Dingen die Unterstützung von Führungskräften bei der Umsetzung von New Work.
Denn bisher scheinen nur wenige Organisationen und deren Gremien und Institutionen auf die damit einhergehende Konfliktträchtigkeit vorbereitet zu sein. Wer interveniert, wenn Regeln nicht eingehalten, Prozessabläufe gestört, Resultate nicht erbracht werden? Die Führungskraft? Der Betriebsrat? HR? Oder vielleicht noch eine neue zu schaffende Instanz. Wie zum Beispiel bei HILTI die „Sherpas“ oder bei Novo Nordisk das Facilitator-System als schlichtende Kultur-Instanz und Mediator?
Wie gesagt: Es geht um eine völlig neue Variante von Vielfalt und damit um das konstruktive Miteinander in einer agilen, flexiblen und mobilen Arbeitswelt. Jeder soll die Möglichkeit haben, sich seine Arbeitszeiten nach den jeweiligen Aufgaben und betrieblichen Erfordernissen einzuteilen. Präsenzkultur muss einer ergebnisorientierten Kultur weichen. Wo, wann und wie diese Ergebnisse erbracht werden, hängt dann von drei Steuerungsgrößen ab: Termin – Qualität – Kosten.
„Old School“ oder „New Work“?
Die Führung einer Organisation muss Klarheit herstellen, wie man zukünftig arbeiten will: Old School, was okay wäre, oder New Work. Aber bitte keine Ambidextrie sowohl in den Köpfen wie auch in der Organisation. Denn am Ende gibt es noch den Kunden als Überlebensgarant des Unternehmens, der zufriedengestellt werden muss. Nur hat der technologische Wandel auch das Kundenverhalten verändert. Warten war gestern – heute heißt es oft: „Ich – alles – sofort“.
Ob das alles was für Onkel Herbert und die Zusammenarbeit mit seinen Kollegen in deren „Bude“ gewesen wäre, wer weiß? Vielleicht hätte er darauf gepocht, dass 4 Wochen Betriebsferien auch in Zeiten der Digitalisierung nicht unbedingt das Verkehrteste sein muss, bevor alles im blanken Chaos endet ….
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