Anarchie und Disziplin: Scrum Meeting im OP? Warum „agiles Arbeiten“ kein Allheilmittel ist
Ärzte und Pflegepersonal vollbringen Höchstleistungen. Niemand würde über diese Berufsgruppen gerade sagen, sie seien nicht zu allem bereit und würden Höchstleistungen für uns alle schaffen. Sie gehören in der Corona Krise, zu einer vieler -leider sonst nicht ausreichend wertgeschätzten Berufsgruppen – Lehrer oder der Einzelhandel, zu den echten Stützen unserer Gesellschaft.
Andererseits ist das Motto der Stunde „Perfection is the enemy of the good, when it comes to #emergency management.“ Aktuell sind schnelle und klare Entscheidungen wichtiger als Perfektion. Mitarbeitende brauchen jetzt mehr denn je Führung: schnell, klar und konsistent – Fehler sind unvermeidlich, und müssen asap korrigiert werden. Was letzte Woche noch undenkbar war, ist heute Realität.
Aber wollen wir, dass Ärzte und Schwestern agil arbeiten? Naja: Möchten Sie vor Ihrer Blinddarm-OP hören: „Wir schneiden erst mal auf, dann machen wir ein Scrum-Meeting und verteilen die OP in Sprints mit konkreten Milestones.“? Auch möchten wir nicht, dass das Einsetzen eines künstlichen Hüftgelenks im „Homeoffice“ des Chirurgen vonstattengeht.
Und wie wäre es zur Abwechslung mal mit Fehler-Kultur im Cockpit? „Hoppala, der Anflug passt nicht so ganz. Nicht schlimm, drehen wir einfach noch ein paar Runden! Beim nächsten Mal mehr auf die Scherwinde achten, Sie schaffen das!“ – Sie ahnen, worauf ich hinaus möchte.
Vielleicht ist gut, wenn nicht alle agiles Arbeiten praktizieren?
Agiles Arbeiten, Fehlerkultur, New Work: Vielleicht ist es ja doch ganz gut, wenn nicht alle Menschen in allen Berufsgruppen permanent auf jeden Trend aufspringen. Es ist eben doch besser, wenn sich Ärzte, Piloten oder Verfassungsrichter weiterhin ganz herkömmlich ihre Kenntnisse aneignen und diese vertiefen. Sei es durch Studium, Anleitung, lebenslanges, gründliches Lernen oder regelmäßige Fortbildungen. Durch Disziplin eben.
Es ist aber auch so, dass wir bei manchen Problemen mit diesen klassischen Organisationsformen oder Praktiken nicht mehr weiterkommen. Gerade wenn es um kreative Schaffensprozesse geht.
Wenn wir Visionäres ersinnen und umsetzen möchten. Wenn unsere Unternehmung schwerfällig geworden ist und einen Richtungswechsel braucht. Nun kann man sich Kreativität leider nicht anlesen. Es braucht dazu die richtige Atmosphäre, den unerwarteten Geistesblitz, ja, den Funken Anarchie. Und eine gewisse Sturheit gegenüber der verbreiteten Haltung: „Das haben wir immer schon so gemacht“. Oder eine meiner Lieblingsbegründungen mit vier Buchstaben: „Isso!“
Doch wann tun wir was? Wann sind wir anarchistisch und wann diszipliniert?
Wann macht agiles Arbeiten Sinn und wann strukturiertes?
Solche Schwarz-Weiß-Entscheidungen werden immer schwieriger. Nicht einmal das klassische Instrumentarium der Wahrscheinlichkeitsrechnung funktioniert noch so richtig. Aber ist das eigentlich schlimm?
Vielleicht müssen wir anders denken. Vielleicht dürfen die, die agiles Arbeiten betreiben, sich nicht insgeheim über die Disziplinierten erheben und umgekehrt. Vielleicht müssen wir im Gegenteil die Vorteile der jeweils anderen Organisations- und Handlungsweisen wertschätzen. Mit ziemlicher Sicherheit müssen wir uns aber mit der Tatsache abfinden, dass es heute immer öfter kein „richtig“ oder „falsch“ gibt, sondern nur ein „funktioniert“ oder „funktioniert nicht“.
Jahrzehnt der Transformation
In Davos in der Schweiz war man sich dieses Jahr einig: Wir stehen am Beginn des Jahrzehntes der Transformation. Auch wenn Greta Thunberg in diesem Jahr noch einmal mit einem wachrüttelnden Aufruf zu Panik wenig erfolgreich war, so hat sie doch erreicht, dass das Stichwort decarbonisation ganz oben auf der Weltagenda steht.
Einig waren sich alle: Lösen kann man die dringenden globalen Themen der Veränderung jedoch nur gemeinsam. Dabei setzt sich mehr und mehr die Erkenntnis durch, dass man dabei immer stärker auch die jeweils polarisierenden Seiten an einen Tisch holen muss. Es geht aber nicht darum einfach einen Kompromiss zu erzielen.
In zahlreichen großen Transformationsprozessen ging es zunächst darum die Betroffenen zusammenzubringen. Auch die vermeintlich nicht zu vereinbarenden Positionen. Die Vielfalt der Perspektiven, aber vor allem auch die Einbindung von Anfang an. Faule Kompromisse oder etwaige Angebote den Gegner durch gut bezahlte Schlüsselpositionen mundtot zu machen sind keine Lösung.
Alle an einen Tisch
Meine Erfahrung zu Grenzverhandlungen an der Grenze zwischen Libanon, Israel und Syrien nach dem zweiten Libanon Krieg 2007 zeigten: So schwierig und scheinbar kaum lösbar Gespräche erscheinen mögen, so wichtig sind sie als Kanal des Austausches. Manchmal ist der Verhandlungstisch der einzige an dem Perspektiven gewechselt werden. Verhandlungen dieser Art erfordern viel Disziplin. Von allen Seiten und häufig braucht es auch eine externe Instanz, die den Prozess moderiert. Die Blauhelme, die eine Plattform, Neutralität und Hilfestellung im Miteinander bieten.
Agiles Arbeiten, Scrum Master etc.: Neue Begriffe, altes Denken. Erinnern Sie sich noch an Schlagworte der 2000er wie die „Grenzenlose Unternehmung“ oder die „Gig Economy“? Wenn Organisationsformen neue Namen bekommen, ändert das oft nichts an der Grundsubstanz ihres wirtschaftlichen Handelns. Bis heute trachten Heerscharen von Beratern danach, Megafusionen zu begleiten. Zu verlockend sind die „economies of scale“. Also die Möglichkeiten, durch ein überproportional wachsendes Marktvolumen effizienter zu werden. Allerdings, und das zeigt die Praxis, führen Fusionen nur selten zu einer Differenzierung der Geschäftsmodelle, sondern eher zu einer Konzentration.
Das macht, salopp gesagt, dick und doof. Und führt zum Klumpenrisiko. Denn wie uns die deutsche Automobilindustrie in den letzten Jahren eindrucksvoll aufgezeigt hat, findet eine größere, weniger diverse, weil auf einheitliche, effiziente Prozesse getrimmte Organisation nun wirklich nicht gerade die Antwort auf die Herausforderungen der Zukunft. Eine Uniform Task Force gibt schnell Antworten auf bekannte Fragen und ist kaum zu schlagen in dem was sie macht. Aber bei neuen Fragen scheitert sie. Es fehlt an Vielfalt, an Pluralität der Ideen.
Ein Schuss Anarchie
Etwas wendigere Branchen wie der Handel oder die Energiewirtschaft haben das erkannt. Etablierte Unternehmen in solchen Wirtschaftszweigen haben in den Metropolen dieser Welt agile Hubs platziert. Das ist nichts anderes als der Versuch, Anarchie zurück in das Unternehmen zu holen. Räume zu schaffen, in denen die Organisation einen neuen Sinn findet.
Das ist auch dringend notwendig, denn ich bin davon überzeugt: Je klarer strukturiert ein Prozess und je wertvoller dessen Ergebnis, desto wahrscheinlicher ist, dass der Einzelne damit in Zukunft kein Geld mehr verdienen kann.
KI als Assistenz
Weil Maschinen diese Prozesse übernehmen werden. Das ist nicht nur in der industriellen Fertigung so, das zieht sich mehr und mehr in die Dienstleistungs- und Beratungsgesellschaft hinein. Bei Wirtschaftsprüfern, Steuerberatern und dergleichen geht es schon los. In den USA sehen wir bereits sehr beeindruckende Assistenzeinsätze von künstlicher Intelligenz im dortigen Rechtssystem. Da kommt noch mehr, verlassen Sie sich drauf. Auch hier in Deutschland.
In Tesla Automobilen assistiert bereits eine KI beim Fahren. Faszinierend ist jedoch eher, dass Tesla bereits die nächste Betriebssystem-Generation ebenfalls im Hintergrund mitlaufen lässt. Eine weitere Instanz prüft dann die realen Reaktionen des Fahrers, die Vorschläge des laufende Assistenzsystems und die des noch in Entwicklung befindlichen – es stellt die Ergebnisse gegenüber und lernt.
Am Anfang steht das weiße Blatt Papier
Auch abseits der technologischen Quantensprünge: Revolutionen oder große Transformationen entstehen nicht im Nachkommastellenbereich. Revolution folgt keiner Blaupause. Häufig starten sie mit einem weißen Blatt Papier. Kreative Transformation ist der Umgang mit der Unsicherheit manchmal sogar die Fragen nicht zu kennen, die man sich stellen muss.
Was bedeutet das für Ihr Unternehmen? Wie reagiert Ihre Organisation auf immer neue Entwicklungen?
Nun, ähnlich wie bei der menschlichen Gesundheit, müssen Sie Ihr Abwehrsystem stärken und regelmäßig trainieren. Da wir nicht wissen, welche Herausforderungen die Zukunft für unsere Organisation mitbringt, brauchen wir nicht nur klare Hygieneregeln (Disziplin), sondern auch freie Radikale – Anarchie im wahrsten Sinne des Wortes.
Disziplin für Freiheit
Positive Anarchie stellt unser Innerstes infrage. Diese Instabilität kann zu einer neuen Stabilität führen. Wir brauchen also Offenheit und Durchlässigkeit der Organisation. Und zugleich Anker, die das alles zusammenhalten. Und hier löst sich das Paradoxon auf: Wir brauchen knallharte Disziplin, damit wir diese Freiheiten schaffen können.
Was bedeutet das für Ihr Handeln? Wagen Sie es, Lösungsansätze aus der Vergangenheit infrage zu stellen. Finden Sie lieber bei jeder Aufgabe heraus, was das eigentliche Problem, die wirkliche Herausforderung ist.
Handlungssicherheit schaffen
Definieren Sie nicht das Ziel, aber schaffen sie Handlungssicherheit. Durch einen Horizont, dem Sie sich nähern wollen. Oder durch einen Polarstern. Einige Organisationen und Unternehmen versuchen dies durch Purpose. So vermitteln Sie Sicherheit durch einen Kompass, durch Haltung, so dass keine Command-and-Control Mechanismen mehr erforderlich sind.
Aber schaffen Sie niemals Disziplin ab!
Wenn Entscheidungen getroffen sind. Egal in welcher Organisationsform – unabhängig in welchem Entscheidungsprozess diese entstanden sind. Die Umsetzung muss diszipliniert erfolgen. Dann gibt es kein vielleicht, dann gibt es auch kein sowohl als auch. Nur wenn Sie die Entscheidung diszipliniert und wie sie getroffen wurde umsetzen, können sie feststellen, ob sie funktioniert.
Konsequente Umsetzung
Treffen Sie Entscheidungen gemeinsam und mit vielfältiger Perspektive. Setzen Sie getroffene Entscheidungen aber dann auch konsequent um. Wenn es nicht funktioniert, dann geht es in eine erneute Entscheidung. Entscheidung finden: Anarchie. Entscheidung umsetzten: Disziplin.
Ähnlich wie bei einer Zwiebel, müssen Sie Schicht um Schicht abtragen, um zum Kern vorzudringen. Wenn Sie den gefunden haben, wischen Sie sich die Tränen aus den Augen und überlegen, welche Organisationsform die richtige ist. Agiles Arbeiten oder Waterfall, kreativ oder diszipliniert, vielleicht aber beides zur rechten Zeit – mit den richtigen Menschen an der richtigen Stelle.
Und dann legen Sie los.
Kommentar verfassen