Mann im Anzug wirft im Gehen seine Anzugjacke hinter sich.

Karrieregrenzen – Warum Führungskräfte nicht mehr auf- sondern aussteigen wollen

„Fast 40 Prozent der Führungskräfte sehen in ihrem Unternehmen nur noch bedingt eine Perspektive für ihre berufliche Laufbahn und planen daher einen Karriere-Ausstieg“ und „sieben von 10 Führungskräften planen außerdem keine wesentlichen Änderungen mehr in ihrer beruflichen Laufbahn“ – als ich diese Ergebnisse einer Führungskräfte-Befragung der Bertelsmann Stiftung  las, dachte ich spontan: ja, das glaube ich sofort. Dieser Befund deckt sich mit meiner Erfahrung als Beraterin in den Top-Executive-Ebenen.

Auf den Punkt gebracht lautet die ernüchternde Erkenntnis: Die einen sehen keine Aufstiegs-Perspektive – viele wollen keine mehr.

Was steckt dahinter? Wer steckt dahinter?

Unproblematisch sind dabei jene erfahrenen Führungskräfte, die nicht mehr jeder vorgehaltenen Karriere-Karotte hinterherlaufen (müssen und mögen), die die erreichte Hierarchie-Ebene als ihr persönliches Ziel-Plateau einschätzen und damit sehr einverstanden sind. Sie leisten dort hervorragende Arbeit. Sie sind meist hochgeachtet, ihre Führungsentscheidungen werden als von Erfahrung und Fachexpertise getrieben wahrgenommen, gerade weil sie nicht im Verdacht stehen, lediglich ihren nächsten Karriereschritt taktisch einfädeln zu wollen.  Ein unschätzbares Asset in Zeiten des porösen Vertrauens und der gegenseitig schwindenden Loyalitäten.

Ganz anders sieht es aus mit jenem Teil von Führungskräften, die definitiv über einen Karriere-Ausstieg nachdenken, und zwar nicht nur sporadisch, sondern über einen längeren Zeitraum.

Was bedeutet es, wenn im Schatten von ambitionierten Unternehmensvisionen (die sich nach wie vor am „größer-schneller- weiter“ orientieren), wenn ungeachtet aller Talentprogramme, Fördermaßnahmen und Self-Employability-Appellen – wenn etablierte Führungskräfte in großer Anzahl sagen: Ich will nicht. Oder: Ich kann nicht.

Wenn sich die persönlichen Ambitionen von den unternehmerischen derart entkoppeln?

Meine These:

Etliche Führungskräfte stoßen an Grenzen, die ihnen die Lust oder die Chance auf einen Aufstieg nehmen. Aber kaum ein Unternehmen findet Lösungen im Umgang mit diesen Grenzen ihrer Führungskräfte, schlimmer: die meisten reflektieren diese Grenzen nicht einmal.

Dies ist fahrlässig. Dazu später. Zuerst: um welche Grenzen handelt es sich?

Die Kulturgrenze:

Viele, vor allem jüngere Führungskräfte, stellen nach Eintritt in die erste Führungsfunktion fest, dass ein weiterer Aufstieg sehr deutlich an informelle Bedingungen geknüpft ist, die nicht primär aus sachlichen Gründen erwachsen, sondern impliziter Bestandteil der herrschenden Unternehmenskultur sind. Wo diese informellen Bedingungen zur Peron passen, werden sie nicht als begrenzend wahrgenommen – für viele sind es aber deutliche und gravierende Hindernisse, denen sie sich nicht unterwerfen können oder wollen. Bei Quereinsteigern ist dieses Phänomen bekannt. Es gilt aber auch für Organisationszugehörige, die nicht noch weiter als bisher bereit oder in der Lage sind, den kulturell vorgesehenen Habitus zu übernehmen. Das können ganz unterschiedliche Kulturkriterien sein: Die einen mögen sich nicht an die Altvorderen oder die Inhaberfamilie ranrobben, weil nur der Stallgeruch eine Aufstiegschance bringt, etwa in Familienunternehmen.

Andere mögen sich einen bestimmten Umgangsstil, der „dazugehört“, nicht angewöhnen, zum Beispiel die Quasi-Verpflichtung, sich auch in der Freizeit vorwiegend mit der eigenen Kollegen-Crew zu umgeben, wie in manchen Startups mit coolen After-Work-Sessions vorgesehen.

Oder jemand hinterfragt den Ziel- und Kennzahlen-Kult, dem es egal ist, wie das gewünschte Ergebnis zustande kam, Hauptsache dass es geliefert wird, zum Beispiel in manchen aktuell in die Schlagzeilen geratenen Branchen, in denen Betrug weniger verwerflich ist als ein kritischer Hinweis auf die Grenzen der Machbarkeit.

Viele Führungskräfte erkennen schnell, dass sie den geforderten unternehmenskulturellen Kriterien nicht entsprechen (wollen oder können) und lassen sich auch nicht vorgaukeln, dass Sachkenntnis oder Engagement diese „Defizite“ wettmachte. Sondern sie beschäftigen sich mit Alternativen, mit anderen Firmen oder mit anderen Lebensmodellen jenseits der Karriere

Die Sinngrenze:

Statt „Grenze“ könnte man auch sagen, der Verlust an Sinn. Es geht hier nicht um Sinn des Lebens (den sollte niemand bei seinem Arbeitgeber suchen), sondern um das professionelle Commitment zum „Wozu“ der täglichen Arbeit.

Die drei zentralen Fragen für die verantwortungsvolle Führungskraft lauten:

  • Welches ist mein Beitrag für meine Organisationseinheit?
  • Welches ist der Beitrag meiner Organisationseinheit für mein Unternehmen?
  • Welches ist der Beitrag meines Unternehmens für die Kunden resp. die Gesellschaft?

Sinnverlust findet dann statt, wenn jemand diese 3 Fragen nicht mehr beantworten kann – oder sie nicht mehr ver-antworten kann. Dabei geht es nicht um einzelne abweichende Bewertungen bestimmter Managemententscheidungen. Sinnverlust tritt auf, wenn im Großen und Ganzen, in der Gesamtheit der Unternehmensführung sinnvolles Handeln nicht mehr erkennbar ist, weder professionell noch ethisch, und auch nicht ökonomisch. Hier beginnen Führungskräfte mit der inneren Aufkündigung ihres Commitments. Sie entpflichten sich und sind vollauf damit beschäftigt in zunehmend paranoiden Strukturen zu überleben – oder eben, ihnen zu entkommen.

Die Kraftgrenze:

Einigkeit herrscht gemeinhin in der Erkenntnis, dass die Anforderungen an Führungskräfte stetig, zum Teil exorbitant wachsen. Die rasanten fachlichen Entwicklungen sind dabei nicht das Problem, eher schon die mentale und emotionale Kraft, die es kostet, unter immer größerer Unsicherheit, riskante Entscheidungen zu treffen und nachzuhalten, oder die Herausforderung, im kurzen Takt der operativen Hektik, in den eigenen Reihen wenigstens rudimentär ein Klima der Anerkennung und Menschlichkeit aufrecht zu erhalten.

Dem „Lebenslang-Lernen“-Mantra und aller Selbstoptimierungs-Techniken zum Trotz: der eine und die andere bemerkt, dass die eigenen Kraftressourcen endlich sind. Dass sie früher oder später sogar nachlassen bzw. nicht mehr in dem Maße zur Verfügung stehen, um den eigenen hohen Ansprüchen zu genügen. Es sind gerade die verantwortlichen Führungskräfte, die sich dann eher mit einem Karriereausstieg beschäftigen als mit einer Ausweitung eines persönlichen „Minimax-Prinzips“ (minimaler Aufwand bei maximalem Ertrag).

Was bedeutet das nun?

Der Preis, den Führungskräfte bezahlen für ihre Karriere, ist gemeinhin hoch. Die meisten akzeptieren ihn, ob bewusst oder implizit. Wenn sie aber über längere Zeit an eine oder mehrere der besagten Grenzen stoßen, dann wird die Rechnung neu aufgemacht.

Das Gemeinsame – und Fatale – in allen diesen Fällen ist, dass niemand darüber laut und offiziell spricht. Im Gegenteil: Die unsichtbaren Grenzen, die die Unternehmenskultur zieht, der fatal erlebte Sinnverlust oder die schmerzlich erfahrenen Grenzen der eigenen Ressourcen sind tabu.

Unternehmen setzen sich nicht mit Grenzen auseinander, sondern mit deren Überwindung. Durch Tabuisierung verschwinden Fakten jedoch nicht. Sie werden aber undiskutierbar und unsteuerbar. Das richtet großen Schaden an:

  • Kulturgrenzen verhindern frischen Wind und Innovation;
  • Sinnverlust höhlt eine Community von innen her aus;
  • Grenzen der Konstitution sind auch bei „Lebenslangem Lernen“ nicht beliebig zu verschieben.

Darf darüber offiziell geredet und nachgedacht werden, wie sich Laufbahnen fortsetzen lassen jenseits des „höher-weiter-schneller“? Wenn wir die Führungskräfte offen fragten, und sie offen antworteten, hätten sie jede Menge Ideen, wo in ihrem (noch in ihrem) Unternehmen sie eine passende(re), notwendige und herausfordernde Aufgabe sehen. Aber in der Regel sind diese abseitigen Ideen der Führungskräfte weder gefragt, noch stehen unternehmensseitig entsprechende Arbeitszeit-Modelle und Laufbahnoptionen zur Verfügung.  Eine mögliche Gehaltseinbuße wäre m. E. kein entscheidendes Hindernis bei diesen Überlegungen. Viel entscheidender ist, ob so etwas ohne Gesichts- und Statusverlust thematisiert und verhandelt werden kann.

Die Folgen, wenn Grenzen zwar erduldet werden müssen, aber nicht besprochen werden dürfen, liegen auf der Hand: Wichtige seismografische Ausschläge bleiben den Unternehmen verborgen.

Fehlentwicklungen werden nicht früh genug erkannt, diskutiert und gestoppt. Entwicklung, Innovation, Performanz oder gute Führung sind gefährdet, wenn sich Heerscharen derer, die genau dafür von der Organisation in die Verantwortung gerufen wurden, nicht mehr mit Weiterentwicklung, sondern mit Ausstieg beschäftigen.

 

 

 

 

 



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