#CampQ19
Digitalisierung

Vernetzung verändert die Gesellschaft – aber nicht den Menschen

Der nachstehende Blogbeitrag erscheint im Rahmen unserer Blogserie zum Camp Q 2019:

 

„Kante zeigen!“ – das fordert Stefanie Kreusel in ihrem Blog zum Camp Q 2019 und provoziert damit förmlich die Frage: Wann hat man selber das letzte Mal Kante gezeigt? Wo hat man den Mut besessen, „NEIN, so nicht“ zu sagen. Wo hat man Haltung bewahrt, in dem man „STOPP, nicht mit mir“ sagte? Es scheint etwas in Organisationen verloren zu gehen, und das in einer unsicheren Zukunft mit diesem schnellen technologischen Fortschritt.

Denn Zukunft hat ein grundsätzliches Problem: Sie ist so schwer vorherzusehen. Und das, obwohl sich Organisationen ganze Stäbe für Szenarien, neue Methoden wie Design Thinking etc. und neuerdings schicke Labs leisten. Organisationen in Zeiten des digitalen Wandels zu führen heißt, sich auf Zukünfte einzulassen. Es bedeutet für Führung, neue Bilder von der eigenen Organisation zu entwerfen und sein zukünftiges ICH in dieser Organisation zu reflektieren.

Führungskräfte haben nicht die große, allwissende Glaskugel, um in die Zukunft zu blicken. Auch wenn das manche Aufsichtsräte meinen oder manche Mitarbeitende erwarten. Aber sie können auf dem Weg in die neue Arbeitswelt mit gutem Beispiel vorangehen. In einer Unternehmenskultur, in der man zugeben kann, dass man nicht alles weiß und Fehler passieren. In der man keine Angst haben muss, um den Sinn mancher Vorgänge zu hinterfragen.


Gespräch mit Stefanie Kreusel, Mitglied im Aufsichtsrat der Deutschen Telekom AG und der T-Systems International GmbH

Wenn Stefanie Kreusel sagt, dass wir als Gesellschaft dringend über digitale Verantwortung nachdenken müssen, weiß sie, wovon sie spricht – denn als Aufsichtsratsmitglied im größten Telekommunikationskonzern Europas ist sie in puncto digitaler Wandel am Puls der Zeit.

Frau Kreusel, was ist für Sie die wichtigste Erkenntnis im Zusammenhang mit der Digitalisierung?

Dass die Digitaltechnik für den Menschen da ist – und der Mensch daher bei allen Digitalisierungsbestrebungen im Mittelpunkt stehen muss.

Warum ist das so wichtig?

Weil man heute angesichts mancher Ideen und Konzepte den Eindruck gewinnen könnte, es ginge bei der Digitalisierung in erster Linie um das Ausloten des technisch Machbaren. Sehen Sie, es gab einmal ein Mercedes-Modell, in dem der Innenspiegel elektrisch verstellbar war – im Nachfolgemodell war dieses Feature dann wieder verschwunden. Warum? Weil die elektrische Innenspiegelverstellung im Vergleich zur manuellen Verstellung keinen Mehrwert geboten hatte, weder in puncto Komfort noch in puncto Schnelligkeit. Wir müssen im digitalen Wandel mit Augenmaß vorgehen: Sofern sich durch eine Digitalisierungsidee ein konkreter Mehrwert ergibt, der dem Menschen irgendwie zu Gute kommt, lohnt es sich, sie zu verfolgen. Anderenfalls nicht.

Die meisten Digitalisierungsideen werden ja mit dem Ziel entwickelt, Abläufe in Unternehmen effizienter machen. Kommt das dem Menschen zu Gute?

Grundsätzlich ja. Digitalisierte Prozesse befreien den Menschen von monotonen repetitiven Aufgaben – sie schaffen damit Raum für kreativeres Arbeiten, das auch von mehr Selbstbestimmtheit geprägt ist.

Aber sie gefährden auch Arbeitsplätze …!

Nicht zwingend. Da, wo die Digitalisierung Arbeitsprozesse verschlankt und menschliche Arbeit obsolet macht, können Mitarbeiter beispielsweise mehr Zeit für Kunden aufwenden. Jeder kennt doch etwa folgende Situation beim Einkaufen: Die Verkäuferin sagt „Moment – da muss ich mal im Lager nachsehen“ und verschwindet dann minutenlang von der Bildfläche. Viel kundenfreundlicher wäre es doch, wenn die Verkäuferin einfach auf Ihrem Smartphone nachsehen könnte, ob der gewünschte Artikel noch im Laden verfügbar ist! Eine digitalisierte und vernetzte Lagerhaltung würde für erheblich mehr Effizienz sorgen, trotzdem müsste keine Schuhverkäuferin um ihren Job fürchten. Ihr Einwand ist aber dennoch berechtigt: Das Risiko, dass in bestimmten Bereichen Arbeitsplätze im Zuge der Digitalisierung wegrationalisiert werden – womöglich vorschnell –, besteht. Ebenso besteht das Risiko, dass digitale Assistenzsysteme nicht zur Arbeitserleichterung, sondern zur Überwachung des Menschen eingesetzt werden. Genau deshalb müssen wir uns Gedanken über digitale Verantwortung machen. Der digitale Wandel ist die größte Veränderung, die unsere Gesellschaft je erlebt hat; sie ist größer als die industrielle Revolution und größer als die Elektrifizierung. Um richtig mit ihr umgehen zu können, brauchen wir Direktiven. Diese können nicht allein vom IT-Sektor kommen, nicht einmal allein von der Wirtschaft. Wirtschaft, Wissenschaft, Politik, Sozialverbände: Sie alle müssen dabei mitwirken.

Wie muss sich digitale Verantwortung denn im Arbeitsalltag zeigen?

Zum Beispiel in der Etablierung eines Arbeitsklimas, das von freiem Denken und von horizontaler Kommunikation geprägt ist. Die Digital-Ära erfordert eine Kultur, in der die Menschen einerseits offen für Veränderungen sind und andererseits auch den Mut haben, selbst Veränderungen anzustoßen. Hierarchiedenken und Top-down-Führung sind dafür nicht die richtige Basis. Neue Organisationsstrukturen müssen her – solche, in denen Ideen sowohl von oben nach unten als auch von unten nach oben weitergegeben werden können.

Das obliegt doch wohl der Verantwortung der Arbeitgeber?

Richtig, das ist Chef-Sache bzw. in großen Konzernen der Führungskräfte. Sie haben dafür zu sorgen, dass es in den Unternehmen zu einem hierarchieübergreifenden Austausch von Vorschlägen kommt und dass niemand Angst vor Fehlern haben muss. Bei der Telekom tragen wir dieser Anforderung unter anderem mit dem Ansatz „Lead to win“ Rechnung, den wir 2015 weltweit für alle leitenden Angestellten eingeführt haben. Dabei geht es um einen kontinuierlichen Dialog zwischen Führungskräften und Belegschaft. Aber auch die Mitarbeiter haben eine digitale Verantwortung: Sie müssen Unternehmensabläufe selbstständig hinterfragen und gelegentlich über den Tellerrand ihres Aufgabenbereichs hinausschauen. Und sie dürfen keine Scheu haben, mit Vorgesetzten in den Diskurs zu gehen.

Ist Letzteres in Zeiten von „Arbeiten 4.0“ denn nicht längst gang und gäbe?

Nein. Insbesondere in großen Unternehmen wird auf den unteren Hierarchieebenen und auf mittlerer Managementebene noch zu schnell gekuscht – das ist auch der Grund, warum Innovationen eher selten an der Basis geboren werden. In der Start-up-Szene sieht es etwas besser aus: Hier verstehen die Mitarbeiter ihre Vorgesetzten nicht als Kontrolleure, sondern eher als Sparringspartner; entsprechend mutiger sind sie in der Kommunikation. Das ist etwas, was Konzernleute grundsätzlich von Start-up-Leuten lernen können: öfter mal Kante zeigen.

Haben Sie selbst früher Kante gezeigt?

Ja, und das tue ich auch heute noch, vielleicht sogar noch mehr als früher. „Kante zeigen“ heißt für mich übrigens nicht, unbedingt auf den eigenen Ansichten zu beharren. Im Gegenteil: Sturheit löst keine Probleme, und sie ist auch kein Karriererezept. „Kante zeigen“ bedeutet für mich vielmehr, überhaupt eine eigene Ansicht haben – und diese auch zu vertreten. In den Konzernen neigen viele Menschen dazu, sich dem anzuschließen, was sie von anderen vorgesetzt bekommen – sei es, weil sie konfliktscheu sind, oder sei es, weil sie zum Entwickeln einer eigenen Haltung zu bequem sind. Das ist ein wirtschaftlicher Hemmschuh. Im Digitalzeitalter ist auf allen Ebenen Initiative gefragt; nur so lassen sich Innovationspotenziale heben. Wir brauchen Leute, die in Meetings aufstehen und sagen: „Ich sehe das ganz anders!“ Um welche Art Meeting es sich dabei jeweils handelt spielt keine Rolle.

Sehr interessant! Und wie sieht es mit digitaler Verantwortung im privaten Bereich aus – was ist da nötig?

Da ist vor allen Dingen Selbstkontrolle nötig: Jeder muss darauf achten, dass er sich nur in dem Maße vernetzt, in dem das für ihn sinnvoll ist. Die digitale Vernetzung verändert zwar die Gesellschaft, aber nicht den Menschen. Unser Gehirn hat sich seit dem Auftreten des homo sapiens sapiens vor hunderttausend Jahren nicht wesentlich weiterentwickelt, das heißt, wir sind heute nicht aufnahmefähiger als früher. Allerdings sind wir heute einer viel größeren Fülle von Informationen ausgesetzt. Folglich müssen wir uns irgendwie beschränken, sonst kommt es zum Informations-Overload.

Aber kann der Einzelne denn wirklich darüber bestimmen, inwieweit er sich vernetzt?

Im privaten Bereich auf jeden Fall, im beruflichen bedingt. Was das Private angeht: Man muss nicht in jeder wachen Minute online sein. Gerade das so fortschrittliche „New-Work“-Konzept, also das Arbeiten ohne starre Arbeitszeiten, verleitet dazu, kontinuierlich – also beispielweise auch im Urlaub – empfangsbereit zu sein, dabei ist das gar nicht nötig und auch nicht gewollt. New Work soll ja gerade dazu dienen, dem Einzelnen eine bessere Work-Life-Balance zu ermöglichen. Mit freiwilligem Dauer-Onlinesein würde man das konterkarieren. Was die beruflich bedingte Vernetzung angeht: Hier steht die Wettbewerbsfähigkeit des Arbeitgebers dem Gesundheitsschutz des Individuums gegenüber – und es gilt, beides in Einklang zu bringen. Das geht zum Beispiel mit betrieblichem Gesundheitsmanagement: Unternehmen, die ein Gesundheitsmanagement pflegen, haben nachweislich nicht so hohe Krankenstände wie Unternehmen ohne Gesundheitsmanagement. Auch die Personalabwanderung ist bei ihnen nicht so hoch. Als modernes IT-Unternehmen geht die Telekom da mit gutem Beispiel voran – wir bieten Fitnesskurse, Online-Coachings für eine bessere Gesundheit, Expertenchats und Videoberatung an. Erst 2016 haben wir außerdem gemeinsam mit der Krankenkasse BARMER GEK, der Uni St. Gallen und der Zeitung, BILD am Sonntag, eine Studie durchgeführt, in der die Auswirkungen der Digitalisierung auf die Gesundheit der Angestellten untersucht wurden. Auf der Basis solcher Erhebungen entwickeln wir unser Gesundheitsmanagement ständig weiter, um es an die Lage der Dinge in der heutigen Arbeitswelt anzupassen. Das ist übrigens etwas, was Start-ups von Konzernen wie uns lernen können.



Kommentare

  1. / von Michael Hoppe

    Kante zeigen, heisst gleichzeitig hohe persönliche Risiken eingehen. Denn unsere Welt ist voller Idioten. Wie sagt man doch so schön „Gier frisst Hirn“ Egal ob in Politik, Wirtschaft und Wissenschaft. Warum haben wir soviel Plastikmüll, Co2 Probleme, zu wenig Wasser, Kriege in Regionen, die aufgrund politischer und wirtschaftlicher Interessen, ausgebeutet werden. Sollen ich weiter aufzählen? Wir können ja vielleicht über die Bildung reden. „A never ending story“ einer Gesellschaft, die sich Schritt für Schritt selbst abschafft. Kante zeigen ist also leicht gesagt. Ich kenne einige Menschen die Kante gezeigt haben. Sie werden oft Mundtod gemacht, riskieren ihre Karriere oder werden schamlos ausgenutzt. Das, liebe Frau Kreusel passiert, wenn mutige Menschen, Kante zeigen.

  2. / von Martin Spilker

    Es gibt sicherlich nicht viele andere Dinge, die so viel Mut benötigen, wie im entscheidenden Moment das „Kante zeigen“. Ja, und es ist richtig, dass man damit Risiken eingeht. Und ja, es braucht manchmal auch Diplomatie, Geschick und auch Verstand und taktisches Kalkül. Ist man deshalb weniger mutig? Aber was wäre die Alternative? Einfach nur zusehen, wie Sachen ihren Gang gehen. Verharren, bis sich die Dinge von selber regeln? Einfach verstummen, um bloß nicht auf- oder aus der Rolle zu fallen? Am Ende ist es auch eine Frage der Haltung. Vielleicht muss man nicht gleich immer das ganz große Rad drehen. Oftmals reicht es schon aus, sich gegen die kleinen Widrigkeiten, Ungerechtigkeiten und Missstände im Alltag zu wehren. So, wie es Echter/Assig in einem der vorherigen Beiträge auf Creating Corporate Cultures beschrieben haben, als sie sich gegen den ständigen Kontroll-Wahn in Organisationen zu Wort melden. Veränderungen beginnen oftmals im Kleinen. Mit einer kleinen Änderung im Ablauf. Mit ein wenig Querdenkertum, wo Mainstream vorzuherrschen droht. Mit einfach mal anders machen, wenn Routine erdrückt. Ich bin daher gespannt auf die Diskussionen und Beiträge im Camp Q – unserem Leadership Camp „Mit Mut und Haltung in die Zukunft führen“ im April in Berlin.

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