#CampQ19

Disziplin: Rote Linien ziehen! – Anarchie: Rote Linien überschreiten! 

Der nachstehende Blogbeitrag erscheint im Rahmen unserer Blogserie zum Camp Q 2019:

 

Unsicherheit ist in Konzernen der Normalzustand: Jede Präsentation muss fünfmal gelesen werden, Zuständigkeiten sind unklar, Projekte laufen immer wieder aus dem Ruder, weil es an Verantwortungsübernahme, konkreten Zielvorstellungen oder konsequenter Kommunikation fehlt. Das treibt mich um. Mich beschäftigt dabei vor allem die Frage, warum Menschen einander so oft nicht verstehen.

Das gilt für Organisationen, für Teams – und häufig auch für private Beziehungen. Ich glaube, es liegt daran, dass Menschen nicht über das sprechen, was ihnen wirklich wichtig ist. Doch genau diese Offenheit und Ehrlichkeit, das Zugehen auf Menschen, das Teilen von Ideen, Meinungen und Werten ist es, was Mut und Haltung eigentlich ausmacht.

Was ist nicht verhandelbar?

Als ich im Libanon als Sprecher der Vereinten Nationen tätig war, ging es für alle um existenzielle Fragen. Um die genaue Grenzziehung, um Waffenschmuggel, um Autorität und Souveränität.

Die Grenze zwischen dem Libanon und Israel verläuft in einigen Abschnitten klar definiert und massiv befestigt. In anderen Abschnitten bilden mehrere hundert Meter voneinander entfernte Steinhaufen die Grenze. Sie sind von den dort seit Jahrzehnten stationierten Blauhelmsoldaten der Vereinten Nationen in eben diesem Blau gestrichen. Zwischen diesen Marken ist der Grenzverlauf nur vage und Gegenstand andauernder Verhandlungen zwischen Syrien, Israel und dem Libanon.

Ein Grabmal, das sowohl von israelischer als auch libanesischer Seite verehrt wird, liegt ganz bewusst in diesem Grenzgebiet. Längs genau über den Grabstein verläuft der Stacheldraht. Wir hatten als Vereinte Nationen den Auftrag, die Grabstätte zu sichern. Die Erreichbarkeit dieses für alle dort lebenden Menschen heiligen Ortes war nicht verhandelbar. Alles wurde diesem Ziel untergeordnet – wohlgemerkt von beiden Seiten, also von beiden Ländern durch einen ansonsten teils kilometerweit menschenleeren gesicherten Grenzbereich, der mich häufig an die ehemalige Grenze zwischen Ost- und Westdeutschland erinnerte.

Für die Menschen war der Grenzverlauf an dieser Stelle nicht verhandelbar. Je größer die Unsicherheit, desto relevanter werden die Themen, die für uns nicht verhandelbar sind. Je unsicherer wir uns fühlen, desto tiefer sind die Muster in uns verankert, auf die wir zugreifen. Sie geben uns die Sicherheit, an der es uns vermeintlich fehlt.

Was bleibt, wenn man alles, was nicht verhandelbar ist, beiseitelegt?

Zu wissen, was nicht verhandelbar ist, zeigt Möglichkeiten der Entwicklung auf. Achtung: Es geht dabei nicht darum, rote Linien als Drohung zu ziehen – denn diese halte ich ohnehin für verhandlungstechnischen Unsinn. Es geht vielmehr darum klar für sich zu wissen, was „nicht geht“. Was wirklich nicht verhandelbar ist.

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Ziehen Sie Ihre rote Linie. Und überschreiten Sie diese, in dem Sie teilen.

Wenn zwei Menschen sich darüber im Klaren sind, was nicht verhandelbar ist, dann kennen sie auch den gemeinsamen Spielraum. Prinzipiell ist also das Machbare alles was übrig bleibt, wenn das nicht Verhandelbare wegfällt. Oder anders: Der Rest ist dann nur noch Verhandlungssache.

Vor kurzem hielt ich einen Vortrag vor über 600 Führungskräften eines DAX Konzerns. Und es ging um die simple Frage: „Was ist Ihnen wirklich wichtig? Was ist für Sie nicht verhandelbar?“ – Die Zuhörenden bildeten eine Liste vor ihrem inneren Auge: Ihre persönlichen Top 3. Die Dinge die für uns maßgeblich sind. Die für uns Kompass und Regelwerk darstellen.

Denken Sie an etwas, das für Sie nicht verhandelbar ist! Das für Sie fundamental ist. Die Liebe zur Familie, die Fairness beim Sport, ihre eigene Gesundheit, die Befriedigung der Sehnsucht nach etwas Neuem, die Nähe mit einem bestimmten Menschen. Etwas, für das Sie wie ein Löwe kämpfen. Etwas, das Sie brauchen wie die sprichwörtliche Luft zum Atmen, etwas, das Ihnen Kraft gibt. Oder, wenn Sie es negativ formulieren wollen: alles was Sie, wenn jemand dagegen verstößt zu tiefst irritiert. Etwas, das – von einer anderen Person missachtet, allergische Reaktionen in Ihnen auslöst: Das ist für Sie nicht verhandelbar.

Was sind Ihre Werte und Normen? Ihre Maßstäbe, die Sie anlegen.

Was passiert, wenn ich versuche, Ihnen diese wegzunehmen? Keine Frage, Sie würden massiv reagieren. Sie wären enttäuscht, abwehrend, vielleicht sogar aggressiv. Sie würden einstehen für das, was für Sie eine Bedeutung hat.

Das ist also mit Ihnen nicht machbar.

Die Konsequenz:

  1. Sie haben keine Wahl, was für Sie selbst nicht verhandelbar ist.
  2. Nichts geht gegen das Unverhandelbare Ihres Gegenübers.

Ziel ist also eigentlich in all unserer Arbeit und eben insbesondere bei Veränderungen: herausfinden, was machbar ist. Gestalten, was gestaltbar ist. Dafür müssen wir aber teilen, was für uns in der unmittelbaren Situation nicht verhandelbar ist.

Die Führungskräfte des DAX-Konzerns haben ihre Liste der wichtigsten Themen vor ihrem inneren Auge. Die Dinge, die für sie nicht verhandelbar sind. Ich habe dann nicht gefragt, was auf ihrer Liste steht, sondern wie viele der Menschen, mit denen Sie täglich arbeiten wissen, was auf ihrer Liste steht. Was glauben Sie, wie viele der 600 Führungskräfte aufgestanden sind, als ich sagte: Erheben Sie sich, wenn mehr als zwei Kolleginnen und Kollegen, mit denen Sie täglich arbeiten, die für Sie wichtigsten Werte kennen. Wie viele standen davon noch, als ich fragte: Und ihre zehn wichtigsten? 17 Leute. Das sind weniger als 3% der Führungsmannschaft, die Teilen, was für Sie fundamental ist.

Ich bin zutiefst überzeugt, das erhebliches Potential darin steckt, rote Linien zu ziehen. Und diese zu überschreiten. Das eigene Limit zu kennen. Heißt andersrum, unserem Umfeld zu zeigen, wieviel wir Ihnen an Möglichkeiten einräumen.

Kennen Sie ihr Limit? Dann teilen Sie es!

Jetzt sind Sie dran! Wie viele Menschen in Ihrem Umfeld wissen, was für Sie nicht verhandelbar ist? Welche Top-3-Werte für Sie nicht verhandelbar sind? Wie viele Ihrer Kolleginnen und Kollegen, Ihrer Mitarbeitenden oder Ihrer Vorgesetzten kennen Ihre nicht verhandelbaren Werte?

Ich erwarte nicht, dass Sie alle Ihre Geheimnisse teilen. Aber ich plädiere dafür, dass Sie mit den Menschen, mit denen Sie zusammenarbeiten, teilen, was für Sie nicht verhandelbar ist. Zeigen Sie Kante. Zeigen Sie, was Ihnen wichtig ist. Ziehen Sie Ihre rote Linie und überschreiten Sie diese, in dem Sie teilen.

Denn wenn Sie teilen, was nicht verhandelbar ist, machen Sie alles andere möglich.



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