Reinhard Mohn – Gedanken zu einem „Jahrhundert-Unternehmer“
„Ich war immer davon überzeugt, dass ein wirtschaftlich erfolgreicher Unternehmer – unabhängig von der Größe seines Betriebes – bereit sein muss, für die ihm anvertrauten Menschen soziale Verantwortung zu übernehmen.“
Am 3. Oktober jährte sich der Todestag von Reinhard Mohn zum zehnten Mal. Ein Mann, den die „ZEIT“ einst mit dem Attribut „Jahrhundert-Unternehmer“ geehrt hat. Anlass genug, ausgewiesene Aspekte seiner Führungsphilosophie zu reflektieren. Vorweg: Diese Gedanken müssen angesichts der Biografie und des Wirkens Reinhard Mohns unvollständig bleiben. Und sie sind durch die Betrachtung aus der Sicht eines ehemaligen Mitarbeiters immer auch subjektiv.
Um sich dem Phänomen Reinhard Mohn zu nähern, muss man allerdings einige Zeit zurückgehen und seine Erfahrungen berücksichtigen – zunächst mit Diktatur und Kriegszeit, dann die USA-Zeit als Kriegsgefangener mit dem Erleben von Demokratie und Freiheit. Diese und schließlich die Gemeinschaftserlebnisse beim Wiederaufbau des Unternehmens in den Nachkriegsjahren waren es, die Mohns Haltung prägten. In ihnen erkannte er auch Faktoren für unternehmerischen Erfolg.
„Meine Erfahrungen im Krieg und im Wiederaufbau brachten mich zu der Überzeugung, dass Gerechtigkeit und Menschlichkeit die Grundlage unserer betrieblichen Gemeinschaft bildeten.“
Seine Führungsphilosophie basiert auf der grundlegenden Überzeugung, dass die Identifikation mit dem Unternehmen, mit seinen Zielen und den eigenen Aufgaben die Motivation und Kreativität freisetzt, um im Wettbewerb erfolgreich zu bestehen. Dabei war Reinhard Mohn weit entfernt davon, Unternehmenskultur und Führungsinstrumente einfach auf dem Reißbrett theoretisch zu planen. Für ihn stand das Ausprobieren neuer Ideen im Vordergrund – einfach das weiterzuverfolgen, was sich bewährt hatte.
Von dem Management-Vordenker Peter Drucker ließ sich Mohn schon frühzeitig zu dem grundlegenden Verständnis inspirieren, dass als oberstes Ziel eines Unternehmens der Leistungsbeitrag für die Gesellschaft stehen sollte. Oft zitiert und wahrscheinlich noch öfter missverstanden. Denn dieses Ziel darf nicht dahingehend ausgelegt werden, dass Unternehmen nur noch und ausschließlich gesellschaftliche Initiativen forcieren oder soziale Projekte unterstützen sollen.
Würde man den Ansatz für die heutige Zeit adaptieren, ließen sich meines Erachtens vier wesentliche Eckpunkte identifizieren, die nach wie vor für eine Organisation den Bezugsrahmen für eine nachhaltige Unternehmensführung bilden könnten – nämlich: (1) Mitarbeitenden anständige Arbeitsbedingungen zu bieten, (2) den Kunden einen ausreichenden Nutzen zu stiften, (3) die Geschäftspartner fair zu behandeln und (4) Gesellschaften mit ihren Kulturen und Gesetzen zu respektieren.
„Mir wurde bewusst, dass die Verantwortung des Einzelnen nicht von der Voraussetzung des Unternehmens für die Gesellschaft zu trennen ist.“
Dabei hatte für Reinhard Mohn eine Forderung immer höchste Priorität: die Sicherung der Kontinuität des Unternehmens. Für Mohn war klar: Auch sein Unternehmen brauchte wie jedes andere zum Überleben Umsatz, Gewinn und Rendite. Wie man diese allerdings erwirtschaftete, da ging er seinen eigenen, den partnerschaftlichen Weg und grenzte sich damit von anderen erfolgreichen Unternehmern seiner Zeit mit einer zentralistischen Führung ab. Daher die Bezeichnung: „Der rote Mohn“.
Gewinne – so formulierte er es oft in seinen Büchern oder Vorträgen – sind kein Selbstzweck, sondern lediglich ein Maßstab für unternehmerischen Erfolg. Reine Gewinnmaximierung blieb ihm suspekt. Trotzdem war ihm deutlich, dass das Überleben des Unternehmens unter Umständen schwierige unternehmerische und persönliche Entscheidungen erforderlich machte. Aber gerade deshalb verknüpfte er zeit seines Unternehmerlebens immer Unternehmertum mit Verantwortung.
Partnerschaft bedeutete für Reinhard Mohn stets, dass Führung und Mitarbeitenden in einer Gemeinschaft mit Rechten und Pflichten agieren und dass eine Unternehmenskultur immer ein Geben und Nehmen beinhaltet. Voraussetzung für die Leistungsfähigkeit des Unternehmens sowie die Motivation seiner Führung und Mitarbeitenden wären neben der Identifikation mit dem Unternehmen und den jeweiligen Aufgaben auch die Formulierung gemeinsam vereinbarter Umsatz-, Gewinn- und Renditezielen.
„Ich war und bin der Auffassung, dass man seinen Mitarbeitern und Führungskräften zuerst immer mit Vertrauen begegnen sollte, um die Kräfte der Motivation und des Engagements für die Ziele des Unternehmens freizusetzen.“
Viele ehemalige Führungskräfte aus seinem Umfeld erinnern sich noch heute daran, dass ein besonderes Merkmal der Führungsphilosophie Reinhard Mohns der unglaubliche Vertrauensvorschuss war, den er grundsätzlich erst einmal Führungskräften wie auch Mitarbeitenden entgegenbrachte. Natürlich immer mit einem gewissen Maß an Kontrolle. Unternehmerische Freiräume und Eigeninitiative bedeuteten auch bei ihm nicht, dass jeder machen kann, was er will.
Grundsätzlich gestand er jedoch Profit-Center-Leitern durchaus die Autonomie zu, gemäß deren Qualitäts- und Preisanforderungen auch bei externen Partnern Aufträge zu platzieren, und nicht eigene Unternehmenseinheiten zu begünstigen. So gewährleistete er durch diesen Wettbewerbscharakter innerhalb des Unternehmens gleichzeitig eine hohe Flexibilität und Dynamik für das Unternehmen. Geschäftsführer waren also zum unternehmerischen Denken und Handeln angehalten.
Legendär sein „Informations- und Berichtswesen“, wie Reinhard Mohn es zu nennen pflegte. Bestehend aus einer großen Mappe mit einer Übersicht zu den wichtigsten Profit-Centern des Unternehmens mit ausgewählten Steuerungsgrößen. Entscheidend war, was geplant war und was erreicht wurde. Bei Abweichungen wurde schriftlich um eine Kommentierung gebeten. Hielten Abweichungen an, wurden Gespräche notwendig. Und am Ende konnten auch harte unternehmerische Einschnitte stehen.
„Bis heute liegt für mich in der Delegation von Verantwortung der Schlüssel zur Innovationsfähigkeit eines Unternehmens.“
Grundsätzlich blieb aber Mohns Führungsphilosophie durchdrungen von der tiefen Überzeugung an den Erfolg durch die Delegation von Verantwortung in dezentralen Strukturen, der Mitsprache am Arbeitsplatz und Beteiligung am Erfolg sowie dem Motto „Viele Köpfe ans Denken bringen“. Oft äußerte er seine Zuversicht dahingehend, dass es „irgendwo im Unternehmen immer jemand mit einer klugen Idee gäbe, aus der sich dann wieder neue Geschäftsmodelle oder bessere Prozesse entwickelten“.
Viele frühere Mitarbeitende werden sich noch an sein Ritual der von ihm so titulierten „Meinungsbildung“ erinnern. Hatte Reinhard Mohn ein Problem identifiziert oder ein Thema für sich entdeckt, wurden seine Gedanken zunächst in ein ca. zweiseitiges Thesenpapier zusammengefasst. Für Mohn immer auch eine Art Soll-Modell: Was ist das Problem? Warum sollte man daran arbeiten? Wie stelle ich mir im Idealfall Lösungen vor? Egal ob bei Führungsthemen oder der Reform der Kommunalverwaltung.
Die „Meinungsbildung“ selbst mündete in einen einstündigen Termin mit ihm, in dem er anfangs nochmals darlegte, wie er das Thema sieht, worauf es ihm ankommt und in welche Richtung Lösungen gehen könnten. Am Ende der Konsultation mit den Teilnehmenden stand eine Beschlussfassung über erste Schritte. Und dann das Go: „Fangen sie mal an, recherchieren sie weiter, telefonieren sie ruhig noch mit ein paar Experten, in drei Monaten schauen wir mal, wie weit wir dann sind.“
Parallel wurde von Reinhard Mohn das Controlling in Kenntnis gesetzt, um entsprechende budgetäre Mittel einzuplanen. Worauf man sich verlassen konnte, war angesichts seiner geordneten Wiedervorlage der Termin in drei Monaten. Was man in der Zeit dazwischen unternahm, oblag demjenigen selber. Das Ergebnis zählte. Mohn gab dabei weniger akribisch konkrete Ziele vor. Aus heutiger Sicht könnte man wohl eher von „Ergebnisräumen“ sprechen im Sinne von: Wo könnte die Reise hingehen?
„>Learning by doing< heißt auch, Fehler zuzulassen, wenn sie als solche reflektiert und dadurch künftig vermieden werden können.“
Mit anderen Worten: Vieles von Reinhard Mohns Führungsphilosophie ist aktueller denn je! Würden die heutigen Hoodie-Träger aus der Start-up-Generation für sich in Anspruch nehmen: „Wir machen jetzt Prototyping!“, so hieß es bei Reinhard Mohn schon vor mehr als 40 Jahren: „Wir fangen einfach mal an und sehen dann weiter!“ Es war die Basis für Flexibilität und Dynamik, um neue Geschäftsmodelle und Produkte zu entwickeln sowie Fehlentwicklungen rechtzeitig zu korrigieren.
Es entspricht der Führungsphilosophie Reinhard Mohns, dass jeder Mensch gemäß seiner Kompetenz, Erfahrung und Werte und im Rahmen seiner Aufgaben Ideen einbringen kann und innerhalb seines Verantwortungsbereiches Lösungen realisieren sollte, um so zum Unternehmenserfolg beizutragen. Deshalb ist die Betonung der „Mitsprache am Arbeitsplatz“ wichtig, im Gegensatz zu der in mancher Organisation falsch verstandenen Partizipation im Sinne von hier kann jeder zu jedem Thema mitreden.
Gleichzeitig war Reinhard Mohn immer die frühzeitige Auseinandersetzung mit Themen sowie dabei der sachbezogene Dialog mit der Interessenvertretung der Mitarbeitenden für die eigene Entscheidungsfähigkeit wichtig. Sie beinhaltete sowohl die Konsultation der Betriebsräte in wichtigen Fragen oder die Priorisierung von Terminanfragen des Betriebsrates, wenn und weil es um entscheidende Belange der Belegschaft ging. Auch eine absolute Vertrauenssache von beiden Seiten.
„Der unbedingte Wille zum Dialog ist eine entscheidende Voraussetzung zur Vermeidung einer letztlich verhängnisvollen und kostenintensiven >Streitkultur<.“
Der Erfolg einer partnerschaftlichen Unternehmenskultur bemisst sich daher nicht nur an der Umsetzung moderner, unternehmensübergreifender Kooperationsformen, sondern auch am Umgang von Gesellschaftern, Aufsichtsrat, Vorstand, Betriebsrat und Mitarbeitenden mit- und untereinander durch ein offenes Konfliktmanagement im Unternehmensalltag. Daher bleiben Artikulation und Respekt unterschiedlicher Meinungen ein zentrales Element seiner Führungskultur.
Die Verbindung von Unternehmertum und Verantwortung erfuhr in der Persönlichkeit Reinhard Mohns dadurch eine Vorbildfunktion, in dem er durch seine Werte und Haltung, sein Auftreten und Verhalten Führung und Mitarbeitenden Orientierung abseits der Schriftstücke gab. Es war die Konsistenz von Wort und Handeln einerseits durch seine Bescheidenheit, aber auch durch Gradlinigkeit, Urteilsfähigkeit und Verlässlichkeit, die der Person Reinhard Mohn Integrität verlieh.
Dabei blieb Reinhard Mohn sich selber treu. Viele Weggefährten erinnern sich noch an seine legendären Gänge in die Kantine, wo er dann inmitten der Belegschaft saß. Eitelkeiten waren ihm suspekt. Inhalt und Ergebnis standen im Vordergrund, nicht Aussehen oder Titel. Dieses konsequente, konsistente Vorleben der partnerschaftlichen Unternehmenskultur und der eigenen Werte bildete nicht nur ein Vorbild, sondern auch gleichzeitig die Messlatte für andere.
„Wer Menschen führen will, muss Vorbild sein!“
Es war ein Merkmal des Unternehmens, kreative, unternehmerisch denkende und handelnde Menschen anzuziehen. Die frühzeitige Übertragung von unternehmerischer Verantwortung machte Bertelsmann für junge Führungskräfte attraktiv. Delegation von Verantwortung, Beteiligung am Erfolg oder Partizipation in Entscheidungsprozessen waren also kein Selbstzweck. Unternehmenserfolg und Unternehmenskultur waren für Reinhard Mohn unabdingbar miteinander verbunden.
Nicht umsonst appellierte Reinhard Mohn in seinen Vorträgen oft an Unternehmerkollegen: „Machen Sie Unternehmenskultur“. Oder er konterte den Hinweis darauf, dass er ja Gewinne habe und sich darum eine Gewinnbeteiligung leisten können mit den Worten: „Machen Sie eine Gewinnbeteiligung, dann bekommen sie auch Gewinne!“ Dahinter stand aber eine an den Bedürfnissen der Menschen ausgerichtete Vertrauenskultur auf der Basis von selbstbestimmtem, eigenverantwortlichem Handeln.
Warum diese Gedanken? Die Rahmenbedingungen für Unternehmen haben sich in den vergangenen Jahren zwar verändert. Der Wertewandel mit einem Trend zum Individualismus, die Globalisierung mit Verschiebungen in der internationalen Arbeitsteilung und den Handelskriegen, der technologische Wandel mit der Disruption von Geschäftsmodellen und nicht zuletzt der Fachkräftemangel und die Demografie erfordern die Gestaltung zeitgemäßer Führungs- und Unternehmenskulturen.
Viele der Ideen Reinhard Mohns haben allerdings in der modernen Arbeitswelt nichts an Aktualität und Bedeutung verloren – im Gegenteil. Delegation von Verantwortung und Partizipation verlangen zwar immer wieder ein kontinuierliches Austarieren. Und auch Führung bedarf der ständigen Neujustierung zwischen Dezentralität versus Zentralität vor dem Hintergrund gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Veränderungen. Aber das Menschenbild sollte dadurch nicht verloren gehen.
Menschen möchten einerseits gestalten und andererseits auch irgendwie Halt und Sicherheit genießen. Es ist die Daueraufgabe von Führung. Auch in Zeiten von New Work. Mohn hat dies bereits früh erkannt. Unternehmensverfassung und Essentials sollen den Menschen im Unternehmen einen kulturell-strukturellen Rahmen und ethischen Kompass geben, in dem die Werte für gelebte Partnerschaft deutlich und deren Konsequenzen bei Nichteinhaltung vermittelt werden.
Dabei war Mohn Pragmatiker genug zu sehen, dass in einem globalen Unternehmen die Essentials gemäß den jeweiligen Landes- und Unternehmenskulturen immer regionale Auslegungen erfahren werden. Alles in Ordnung, so lange diese Essentials nicht grundsätzlich in Frage gestellt werden. Deshalb sah Mohn gerade auch in regelmäßigen Mitarbeiterbefragungen oder verpflichtenden Jahresgesprächen mit der Belegschaft Instrumente zur Überprüfung der Einhaltung dieser Werte.
„Wer als Unternehmer mit der Arbeit der Menschen Geld verdient, steht gegenüber seinen Mitarbeitern in der Verantwortung.“
In seinen Erinnerungen formulierte Reinhard Mohn, wie er sich schon in seiner Jugend wünschte, eine Chance in seinem Leben zu erhalten. Er hat sie erhalten – und hat sie genutzt. Es mag Kritikpunkte an seiner Führungsphilosophie und Person geben. Trotzdem bleibt er ein Vordenker, der die Verantwortung von Unternehmen in der Gesellschaft erkannte, der Zuversicht in die Lösungskompetenz der Menschen besaß und die Kraft des sachbezogenen Dialogs schätzte.
Alle Zitate stammen von Reinhard Mohn aus seinem Buch „Von der Welt lernen“
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