Selbstorganisation

Die Kraft der Vielen

Selbstorganisation als emergentes Phänomen von gesellschaftlichem und organisationalem Wandel

 

Was haben Bewegungen wie Black Lives Matter, Fridays For Future, die Pro-Demokratie Proteste in Hongkong, Anti-Austeritätsbewegungen in Lateinamerika und (leider auch) der Angriff auf das US-Kapitol gemeinsam?

Sie alle unterscheiden sich zwar in den Ereignissen, die sie auslösten, sie eint aber eine nicht-hierarchische Struktur, gepaart mit einem hohen Maß an Handlungsbezug. Ihnen allen fehlt zudem eine zentrale Organisation. Sie sind zutiefst selbstorganisiert. Nicht zuletzt kommen sie – ggf. mit Ausnahme von Fridays For Future – alle ohne explizite Führungspersonen aus.

Wenn wir auf soziale Bewegungen in der jüngsten Geschichte schauen, war das nicht immer so: So standen an ihrer Spitze meist charismatische, herausragende Persönlichkeiten, die mitunter auch das Gesicht der Bewegung darstellten. Martin Luther King Jr., Mahatma Gandhi, Nelson Mandela. Hinter ihnen standen wiederum zentralisierte Strukturen und Organisationsformen, wie bspw. der African National Congress (ANC) im Fall von Nelson Mandela. Der Steuerungsmechanismus war „top-down“.

Obwohl das Konzept selbstorganisierter und führungsloser Bewegungen tiefere Wurzeln hat, insbesondere im antikapitalistischen und feministischen Aktivismus, sind dezentralisierte Protestbewegungen in den letzten Jahren wieder mehr und mehr zur Norm geworden. Das Phänomen wurde erstmals um 2011 in der Occupy-Bewegung und bei den Protesten des Arabischen Frühlings deutlich. Der dabei am häufigsten genannte Organisations- und Steuerungsmechanismus war die Nutzung sozialer Medien. Die grüne Bewegung im Iran 2010 wurde daher auch als „Twitter-Revolution“ bezeichnet. Dieser damalige Optimismus über die Möglichkeiten der sozialen Medien muss heute ganz sicher differenzierter betrachtet werden, aber es ist unbestreitbar, dass das Internet Möglichkeiten für die Organisation ohne eine zentrale Führungsstruktur eröffnet hat. Aber es geht nicht nur um Technologie.

 

Wie wirkt ein Wir?

Phänomene der Selbstorganisation werden nicht selten auch als „führerlos“ (leaderless) bezeichnet. Ori Brafman und Rod Beckstrom haben schon 2008 in “The Starfish and the Spider“ (Brafman, Beckstrom, 2008) vermittelt, dass dezentral organisierte Wertschöpfung kein neues Phänomen ist, aber mit den Möglichkeiten der Digitalisierung noch einmal eine ganz andere Wirkmächtigkeit entfalten kann. Carne Ross überträgt diese Gedanken auf politische Systeme und spricht gar von der „Leaderless Revolution“ (Ross, 2012). „Kein Einzelner kann für sich in Anspruch nehmen, für die gesamte Bewegung zu sprechen“, schreibt Carne Ross, und weist damit auf einen weiteren Vorteil einer Abkehr von Galionsfiguren in sozialen Veränderungsprozessen hin. „Wenn diese eine Person verletzt oder ermordet wird, wie es bei Martin Luther King Jr. oder Malcolm X der Fall war, stirbt ein großer Teil der Bewegung“, so Carne Ross.

Die Kehrseite, so Ross, ist, dass es in einer führerlosen Bewegung keinen Mechanismus gibt, um eine einheitliche Taktik durchzusetzen, insbesondere wenn es darum geht, die Grenze zur Gewalt zu überschreiten. Das Risiko besteht darin, dass die Handlungen einiger weniger den Ruf der gesamten Bewegung beschmutzen können. Deutlich wird dies an den Pro-Demokratie Protesten in Hongkong: Die Demonstranten wurden stark kritisiert, nachdem ein Journalist der staatlichen chinesischen Zeitung Global Times während eines Sitzstreiks am Flughafen von einer Menschenmenge angegriffen wurde.

Eine weitere Herausforderung führerloser Bewegungen ist, dass oft nicht klar ist, wer für die Bewegung spricht. „Black Lives Matter“ zum Beispiel ist ein Slogan, eine dezentrale Bewegung, aber auch der Name eines Netzwerks etablierter Organisationen. Als die Afro-Amerikanische Bürgermeisterin von Washington D.C., Muriel Bowser, eine Straße vor dem Weißen Haus in „Black Lives Matter Plaza“ umbenannte und den Slogan auf die Straße schreiben ließ, wurde sie von der lokalen Gruppe Black Lives Matter in Washington D.C. dafür harsch kritisiert. Sie bezeichneten diese Aktion als Ablenkung von einer von Muriel Bowser betriebenen Politik, die sich u. a. Tage zuvor die Polizei zur Niederschlagung von Protesten durch Black Lives Matter veranlasst hatte.

Als schwierig erweist sich für Bewegungen auch, Ziele in dauerhafte und im Gesamtsystem verankerte Veränderungen zu übertragen. Den Protesten auf dem Tahrir-Platz mag es gelungen sein, den ägyptischen Diktator Hosni Mubarak aus dem Amt zu drängen, aber es war die Muslimbruderschaft, eine gut etablierte und äußerst disziplinierte politische Bewegung, die in der Lage war, nach ihm die Macht zu übernehmen, bis sie schließlich von einer anderen – durchaus als hierarchisch zu bezeichnenden – Institution verdrängt wurde: dem Militär des Landes.

Nicht zuletzt stellt sich die Frage, ob viele der skizzierten Bewegungen tatsächlich so offen, selbstgesteuert und egalitär sind, wie sie es vermitteln. Selbst in anarchischen Bewegungen existieren tief liegende und Einfluss nehmende Machtdynamiken. Im Jahr 1970, als führerlose „Bewusstseinsgruppen“ in der Frauenbewegung immer beliebter wurden, kritisierte die feministische Wissenschaftlerin Jo Freeman diesen Ansatz in ihrem Artikel mit dem Titel „The Tyranny of Structurelessness“ (Die Tyrannei der Strukturlosigkeit), in dem sie argumentierte, dass „es so etwas wie eine strukturlose Gruppe nicht gibt. Jede Gruppe von Menschen, egal welcher Art, die über einen längeren Zeitraum zu einem bestimmten Zweck zusammenkommt, strukturiert sich unweigerlich in irgendeiner Weise“. Strukturlosigkeit, so schrieb sie, „wird zu einer Art der Maskierung von Macht“, von der diejenigen profitieren, die die ungeschriebenen Regeln einer Bewegung am besten verstehen. Besser sei es daher, die Machtstruktur explizit zu machen und damit steuerbar.

 

Experimentierfeld Selbstorganisation

Was bedeutet all das für die Gestaltung von Führung und Organisation? Schon heute sind Formen der Selbstorganisation in Unternehmen, bzw. die bewusste Abkehr von zentral gesteuerter Organisation weder ungewöhnlich, noch exotisch. Ganz im Gegenteil: Es ist eine Reaktion, um in Zeiten immer schnellerer und disruptiverer Veränderungen im Umfeld von Organisationen auch weiterhin zukunftsfähig zu bleiben. Die digitale Transformation sowie die damit verbundene radikale Ausrichtung am Kundennutzen zwingen Organisationen förmlich dazu, nicht nur auf Effizienz und Stabilisierung ausgerichtete Strukturen und Prozesse zu hinterfragen, sondern auch die damit verbundenen Steuerungs- und Führungssysteme. Ergänzt man diese Phänomene mit immer kürzeren Entwicklungszyklen von Dienstleistungen, konstantem Innovationsdruck und damit verbundener Selbsterneuerung, kommt man gar nicht mehr umher, Veränderungsimpulse nicht mehr nur vom Kopf der Organisation, sondern ebenso aus dem Mittelbau zu erwarten, ja gar zu fordern (Haas, 2018).

Selbstorganisation ist zudem eine logische Reaktion auf eine zunehmende Ausdifferenzierung von Lebenskonzepten, Karrieren, Marktnischen und Welterklärungsmodellen – kurzum: der Individualisierung. So fordern nachwachsende Arbeitnehmergenerationen schon heute neben selbstbestimmten Arbeitsformen eine tiefe Sinnerfüllung in ihrem Arbeitsleben. Dabei werden das Leistungsversprechen eines Unternehmens, aber auch das Verständnis von Führung und Zusammenarbeit ebenso wie persönliche Entwicklungsmöglichkeiten einer schonungslosen Wertung unterzogen, bevor man sich an eine Organisation bindet. Unbefristete Arbeitsformen, Statussymbolik, Gehaltsgruppen und andere Formen eines reinen monetären Anreizsystems wirken hier nicht nur aus der Zeit gefallen, sondern sind schlichtweg wirkungslos.

Insofern ist es nicht verwunderlich, dass viele Organisationen sich heute in einer Such- und Experimentierbewegung befinden, bei der Selbstorganisation als eine Reaktion auf das gefühlte Unbehagen mit dem Status Quo verstanden wird. Soziokratie (Strauch / Reijmer, 2018), Holokratie (Robertson, 2015), Heterachie (Winter, 2009) sowie sämtliche Interpretationen von Agilisierung sind hierbei die mitunter bekannten Stichworte. Diese Transition wird jedoch nicht selten begleitet von Überraschungen. So zeigen sich schon heute nicht nur erste Ermüdungserscheinungen, sondern bereits spürbarer Frust bei der Einführung solcher Arbeitsformen. Denn sie sind zutiefst voraussetzungsvoll, regelbasiert und nicht zuletzt eine Reaktion auf einen sehr konkreten Arbeitskontext, bei dem Kunden mit einem expliziten Bedarf definiert wurden. Eine unreflektierte Übertragung agiler Ansätze in die Gesamtorganisation sollte daher wohl überlegt sein.

Damit einhergehend bedeutet Selbstorganisation auch nicht Führungsabstinenz, denn auch selbststeuernde Formen der Arbeitsorganisation bedürfen ermöglichende und unterstützende Äquivalente, so dass sich diese Formen überhaupt erst entfalten und stabilisieren können. All das ist bereits aus vielen Jahren der Befassung mit High Performance Teams bekannt. So ist die Sicherstellung der Arbeitsfähigkeit von Teams weder ein Selbstläufer, noch durch eine einmalige Verabschiedung von Rollen und Spielregeln gewährleistet. Stattdessen müssen soziale Dynamiken stets im Blick behalten und thematisiert werden. Handlungsleitend ist dabei die Sinnstiftung (purpose) in und durch Organisationen. Doch Vorsicht: Sinnstiftung bedeutet nicht, dass Organisationen dafür verantwortlich sind, den nicht selten persönlich motivierten Erwartungen, Vorstellungen, Neigungen und Überzeugungen von Mitarbeitenden zu entsprechen. Stattdessen stellen sich Mitarbeitende in den Dienst eines größeren, über Wachstumspostulate hinausgehenden, Zielbildes der Organisation und tun dies in vollem Bewusstsein ihrer Rolle.

Folglich kann eine zunehmend zu beobachtende Hinwendung zu mehr Selbstorganisation als eine richtige und notwendige Weiterentwicklung von Organisationen verstanden werden. Hierin liegt in erster Linie eine Chance für Reflexion und Diskurs, inwiefern in der Vergangenheit etablierte und meist auch zum Erfolg der Organisation beigetragende Routinen und Formen der Arbeitsorganisation auch weiterhin auf Zukunft einzahlen. Dieser Diskurs ist jedoch differenziert und nicht normierend oder gar diskreditierend zu führen. Vor einer radikalen Umstellung von traditionell strukturierter Organisation auf nicht-hierarchische, selbstorganisierte Organisationsformen lohnt es sich daher zu fragen: Braucht es das Eine, das Andere, beides oder etwas ganz anderes?

Unabhängig von seinen Vor- und Nachteilen wird ein dezentraler, selbstorganisationaler Ansatz in der Gestaltung von sozialem Wandel und ökonomischer Wertschöpfung wahrscheinlich auch weiterhin zunehmen. Insbesondere in Zeiten, in denen das Misstrauen gegenüber formalen Institutionen wächst – sei es in Politik oder Wirtschaft – erscheint die „Kraft der Vielen“ eine attraktive Alternative zu bisherigen politischen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Steuerungsmodellen zu sein.

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Literatur

  • Carne, Ross (2012): The Leaderless Revolution: How ordinary people will take power and change politics in the 21st Century. Blue Rider Press. New York.
  • Brafman, Ori; Beckstrom, Rod (2008): The Starfish and the Spider: The unstoppable power of leaderless organizations. Penguin Group. London.
  • Haas, Oliver (2018): Panik in der Pyramide. In: Neue Narrative. TheDive. Berlin. S. 50-53.
  • Robertson, Brian J. (2015): Holacracy, The new Management System for a radidly changing world. Henry Holt and Company. New York.
  • Strauch, Barbara; Reijmer, Annewiek (2018): Soziokratie: Kreisstrukturen als Organisationsprinzip zur Stärkung der Mitverantwortung. Vahlen. München.
  • Winter, Johannes (2009): Zwischen Hierarchie und Heterarchie. Kompetenzveränderungen in Tochterbetrieben internationaler Automobilunternehmen am Standort Polen. LIT-Verlag, Berlin/Zürich.


Kommentare

  1. / von Martin Spilker

    Danke, lieber Oli, für die interessante Perspektive auf neue Organisationsformen. Erinnern mich sehr stark an die „New Powers“ – Bewegungen wie z. B. „Ice Buckett Challenge“, die entstehen und sich ausbreiten, weil sie eben keine bindenden Vorgaben machen. Trotzdem doch die Frage: Mir fiel nur auf, dass man ja doch irgendwie Personen hat, man nennt sie hier „Gesichter“: Greta oder Wong etc. Charismatische mutige Personen! Sind das nicht doch Formen von Führung mit Führer:innen – aber einfach nur andere? Am WE ar noch ein aRtikel in der Financial Times zu Occupy Wall Street. Auch da gab es wohl hinter den Kulissen markante Figuren … aber nochmals danke für deinen tollen Beitrag.

    1. / von Oliver Haas
      zu

      Lieber Martin,
      Danke für Deine wunderbare Resonanz, über die ich mich sehr gefreut habe.
      In der Tat besitzen viele der im Text genannten Bewegungen „Gesichter“, allein schon deshalb, weil es diese braucht um diese Bewegungen zu kommunizieren. Die Frage, die sich dabei stellt ist: Sind diese Rollen zugewiesen oder selbst gewählt? Und wenn sie zugewiesen sind, nehmen diese Personen diese Rollen überhaupt an? Und wie im Text ausgeführt, gibt es auch Situationen, in denen sich Personen aktiv als (ein) Gesicht einer Bewegung inszenieren, die Bewegung dies aber ablehnt (siehe Muriel Bowser). Ungeachtet dessen würde ich bei den genannten Beispielen weiterhin davon ausgehen, dass Führung hier als „kollektive Kompetenz“ verstanden wird, bei der es kein oben und unten gibt, sondern vielmehr ein Führungssystem, welches sich nach selbstgesetzten Prinzipien steuert.

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