Kulturwandel

Kulturwandel ohne rosarote Brille

Erwartungen, Bedürfnisse, Sehnsüchte. Die Organisationskultur wird mit Wünschen überfrachtet. Entsprechend hoch liegt die Messlatte: erfolgreiche Firmen mit glückseligen Menschen. Es wird Zeit, die Möglichkeiten und Hemmnisse der kulturellen Transformation nüchtern einzuschätzen.

Die Organisationskultur ist ein Klassiker der Business-Theorie. Sie wird derzeit mal wieder zum Allheilmittel hochgejazzt. In unserer agil-digital-partizipativen Zeitenwende setzen Unternehmen auf die Kulturkarte als Trumpf, ansonsten drohe bald der ökonomische Niedergang. Ist „Kultur“ also die Zauberformel für Leader oder doch nur ein modisches und bisweilen bigottes Buzzword? Beispiel Daimler: Zur Bewältigung des Dieselskandals startete Ende 2015 der wohl ehrgeizigste Kulturwandel eines deutschen Konzerns: „Leadership 2020“. Nach einem mustergültigen Auftakt ist heute davon kaum mehr etwas zu sehen.

 

10 spannungsgeladene Thesen

Kultur rechnet sich: Seriöse Studien zeigen, dass die sogenannte reife Kultur positive Effekte auf Engagement, Produktivität und Profitabilität hat. Um die bilanziellen Abstürze kulturell verseuchter Firmen ranken sich düstere Legenden: von Enron bis Wirecard. Deshalb haben langfristig orientierte Investoren und Asset Manager die Kultur zum wesentlichen Anlagekriterium erkoren.

Kultur bleibt zweitrangig: Der weiche, langfristige Kulturwandel konkurriert mit harten, kurzfristigen Gewinnzielen. Abgesehen vom kleinen Kreis engagierter Akteure gelten Kulturprojekte als nettes Beiwerk. Die Workshops bringen Atempausen und Abwechslung im strengen Alltag: spannend, stimulierend und womöglich segensreich. Aber bereits am nächsten Tag fordern die Märkte erneut ihren Tribut: profitables Wachstum, fast um jeden Preis.

Kultur geht ans Eingemachte: Nicht am äußeren Antlitz der Organisation wird angesetzt, sondern am Zentralnervensystem. Wer sich mit Sonntagsreden, Lippenbekenntnissen und Hochglanzprospekten begnügt, macht nichts als Facelifting und riskiert Shitstorms und schlechte Presse. Mitarbeiter und das ganze Ökosystem verlangen heute ein Fundament, das weit über monetäre Kennzahlen hinausragt. Mit ernsthaftem Willen: „walk the talk.“

Kultur wirkt inszeniert: Kulturelle Interventionen bespielen die Schauseite des Unternehmens, sie stellen das schöne Selbstbild dar, fast wie eine Dating-App. Niemand kann erwarten, dass die Firma tatsächlich so ist, wie sie sich darstellt. Die Kluft zwischen Schein und Sein bemerken besonders neue Mitarbeiter, die nach der Balzzeit (= Rekrutierung) und dem Honeymoon (= Onboarding) im Alltag landen. Kulturelle Statements sind zu vollmundig, um immer und überall eingelöst zu werden.

Kultur bringt K(r)ämpfe: Stellen Sie sich eine technikgeprägte Firma vor, in der die Nullfehlermentalität vorherrscht und Abweichungen im Nanobereich als Schlappe gewertet werden. Und plötzlich soll, weil auf agile, iterative Produktentwicklung gesetzt wird, eine Fehlertoleranz gelebt werden. Dies widerspricht dem Ethos mancher Professionals. Für sie kommt vor dem Kulturwandel der Kulturschock.

Kultur klemmt in der Raumzeit: Verlangt wird meist ein Neustart oder zumindest ein Musterbruch. Die neue Kultur gelingt nicht halbherzig, heißt es, sondern nur tatkräftig mit queren Impulsen. Aber Zukunft braucht Herkunft, wusste der Philosoph Odo Marquardt. Keine Organisation kann überfordert werden, jeder Overstretch gerät zur Zumutung für gewohnheitsträge Menschen. Möglich sind meist nur Musterbrüchle.

Kultur ist lokal verankert: Wer ein Bewusstsein wie im Silicon Valley anstrebt, also Pragmatismus, Optimismus und die „can-do“-Attitüde, muss den sozioökonomischen Kontext berücksichtigen, dessen Wurzeln im Lifestyle San Franciscos liegen. Und der sich von der Lebensart an Standorten wie Bielefeld, Bregenz oder Bern unterscheidet. Die Lokalität des Headquarters wirkt wie ein genetischer Kulturcode.

Kultur grenzt ab: Durch gruppendynamische Prozesse entwickelt sich aus einer starken Kultur die Neigung zur Abgrenzung von anderen, fremden Kulturen. Es entstehen Überheblichkeit („wir besser als die“) und das sogenannte Othering („wir gegen die“). Daraus erwächst zwar organisatorische Energie, die genutzt werden kann. Das Selbstwertgefühl hat aber Schattenseiten: Arroganz und Aggression.

Kultur erfordert Detox: Wer Tugend par excellence verlangt, erwartet zu viel vom Menschen. In Organisationen wird es stets lässliche Sünden und weitere Verfehlungen geben. Die aber nicht ausufern können. Toxische Akteure vergiften das Klima. Wenn es das Topmanagement ernst meint, muss es kulturellen Unholden im Performance Management die Rote Karte zeigen, selbst wenn die als unersetzlich gelten („sales hero“).

Kultur nutzt sich ab: Ein einmal erreichtes kulturelles Niveau bleibt nicht ewiglich erhalten, es muss ständig aufgefrischt werden. Besonders die zunehmend virtuellen Arbeitsbeziehungen (Homeoffice) entwerten schleichend das bei persönlichen Begegnungen entstandene Kulturkapital. Diesem Abnutzungseffekt muss durch kulturelle Investitionen entgegengewirkt werden. Bildlich gesprochen: Kultur ist die soziale Schmiere einer Organisation, die beständig nachzuölen ist.

 

Drei kräftige Hebel zum Kulturwandel und eine einfache Formel

Für den Kulturwandel weiß ich keine Patentrezepte, selbst wenn sie von manchen Gurus teuer gehandelt werden. Momentaner Favorit: die Heiligste Dreifaltigkeit aus Sinn, Achtsamkeit und psychologischer Sicherheit. Ganz so einfach ist es nicht. Vor allem ist es nicht so einseitig, wie sich die Utopien aus der Feder von Simon Sinek, Frédéric Laloux oder Amy Edmondson gebärden.

Die Kultur ist kein strenger französischer Garten, der kultiviert wird, indem man düngt, Unkraut jätet und alle krummen Triebe stutzt. Sie ist auch kein englischer Park, mit sanften Hügeln, harmonischer Gestalt und natürlich wirkendem Bewuchs. Kultur ist ein kaum zu bändigender Dschungel.

Drei kräftige Hebel zum Kulturwandel habe ich schätzen gelernt.

Strukturen und Prozesse: Wer mit der Kultur die informelle Seite der Organisation gestalten möchte, muss bereit sein, konsequent an ihrer formalen Seite anzusetzen, vor allem bei den Entscheidungsstrukturen sowie bei den HR-Prozessen; besonders bei der Einstellung und Beurteilung von Mitarbeitenden. Harte Faktoren formen die weiche Kultur. Daher gilt die dem Agilitätspionier Craig Larman zugeschriebene Devise: „Culture and mindset follows structure.“

Wechsel im Topmanagement: Wir kennen den Spruch, der weiß, wo ein Fisch zu stinken anfängt. Also weg damit! In der politischen Arena gibt es dafür zwei Anlässe: die Abwahl oder eine Affäre. In Unternehmen gibt es noch einen Grund: schlechte Zahlen. Ansonsten bleiben der CEO, seine Buddies samt deren Kultur in Amt und Würden und dominieren weiterhin die Firma. Sogar toxische Leader nutzen gerne das Allerweltswort „Culture“. Allein eine neue Kultur mit den alten Akteuren misslingt in elf von zehn Fällen.

Kontrollsysteme: Wer über die wohlklingenden Kulturtreiber wie Vertrauensbasis, Eigenverantwortung, Persönlichkeitsentfaltung vergisst, dass Firmen der Gesellschaft gegenüber rechenschaftspflichtig sind, übersieht womöglich, dass sie sich vor gesetzwidrigen und unanständigen Mitarbeitenden schützen müssen. Aber nur vor diesen und nicht unterschiedslos mit Maßnahmen gegen die ganze Belegschaft. Die kultursensible Ausgestaltung und Handhabung von Auditing, Revision, Controlling und Compliance prägen die Firma mehr als jedes Leitbild.

Der Kulturwandel mit steifen Strukturen, verstaubten Führungskräften und überstrenger Kontrolle wird scheitern. Wie schon zuvor viele politische und ökonomische Systeme. Aus deren Fehlschlägen lässt sich womöglich sogar eine simple Erfolgsformel ableiten:

Kulturwandel = Drive x Chance

Drive ist die der Organisation innewohnende Kraft zum Wandel, Chance die dafür günstigen äußeren Umstände. Je größer beide Faktoren sind, desto eher gelingt der Aufbruch. Nicht selten bleiben Drive und Chance aber klein. Wenn der Ballast aus der Vergangenheit und die Hürden in der Gegenwart zu hoch sind, geschieht nur die individuelle Veränderung: Menschen verabschieden sich und suchen eine ihnen mehr gemäße Kultur.



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