Jiro Ono, Standbild aus 'Jiro Dreams of Sushi'; Dokumentation von David Gelb ©2011 SUSHI MOVIE, LLC

Rettet die Freaks! Oder: Das beste Sushi der Welt!

Foyer eines deutschen Unternehmens. 20.38 Uhr. Beratungsauftrag beendet. „Lass´ uns noch was essen gehen, vielleicht in dem neuen Sushi-Restaurant am Rande der Stadt? Der Inhaber ist allerdings ein bisschen skurril, um nicht zu sagen: leicht psychopathisch.“ Gesagt, getan! Nun, das Restaurant gibt es zwar schon seit acht Jahren und es liegt auch nicht am Rande, sondern mitten in der Stadt … tut hier aber nichts zur Sache.

Allerdings wirkt der Inhaber in der Tat ein bisschen skurril. Große Worte und ausladende Gesten sind wahrlich nicht sein Ding. Das Vokabular scheint eher auf ein Dutzend, mal mehr, mal weniger genuschelten, schwer verständlichen Lauten beschränkt. Die Begrüßung: spartanisch. Die Speisekarte mit einem an ein Knurren erinnernden Laut auf den Tisch gelegt, die Getränke mit einem Seufzer dargereicht. Menschenfreunde stellt man sich wahrlich anders vor.

Dann aber dieses Sushi! An Farbenpracht nicht zu überbieten, die Darreichung schon ein kleines Kunstwerk für sich, die Frische des Fisches, der Duft und Geschmack der Saucen und Zutaten! Es entschädigte für jedes der nicht gewechselten Worte. Und mit einem Mal huschte diesem Inhaber ein breites Lächeln der Zufriedenheit und des Stolzes über das Gesicht angesichts seines Produkts. Hält diese kleine Episode nicht gleich mehrere Lektionen bereit?

„Nehmen wir Abschied von unseren gepflegten Vorurteilen“

Erste Lektion: Nehmen wir Abschied von unseren, wie es der renommierte Management-Trainer Klaus Doppler nennt, „gepflegten Vorurteilen“. So ein Restaurant kann keine sechs Monate überleben? Kann es doch! Ein Restaurant-Besitzer sollte seine Kunden umgarnen und höchsten Dienstleistungsansprüchen genügen? Kann nie schaden, muss aber nicht unbedingt sein! „Gepflegte Vorurteile“ bestätigen uns, im gewohnten Trott zu verharren oder hindern – gerade bei Change-Projekten – daran, neue Erfahrungen zu sammeln, etwas auszuprobieren oder wie HILTI es fordert: den „Circle of Habits“ zu verlassen.

Zweite Lektion: Das Leben von Werten und sich selbst treu bleiben! Das Erfolgsgeheimnis des Besitzers des mit drei Sternen, aber nur mit zehn Plätzen ausgestatteten Sushi-Restaurants in der Tokioter Metro-Station: seit Jahrzehnten eiserne Disziplin, ergebene Leidenschaft und Respekt vor dem Produkt, Konzentration auf die eine Sache mit dem Qualitätsanspruch, jeden Tag ein besseres Sushi zu machen! Wer dazu noch Anschauungsmaterial braucht, dem sei die Dokumentation „Jiro und das beste Sushi der Welt“ empfohlen.

Natürlich ist es legitim, solche „Freaks“ zu belächeln und solche Besessenheit zu kritisieren. Dritte Lektion: Sind es nicht gerade diese „Freaks“, die am Ende innovative Ideen kreieren, sich mit dieser Leidenschaft in Konzeption und Verbesserung ihrer Produkte stürzen, und Neues, Besseres, Schöneres schaffen? Denken wir nur an die vielen Unternehmer, die im wahrsten Sinne des Wortes in Garagen angefangen und mit Besessenheit an ihren Ideen gearbeitet haben: vom Modeunternehmer mit seinen ersten Schnitten bis zum Software-Entwickler mit seinem ersten PC-Programm.

Und letztlich als vierte Lektion: Es braucht Bedingungen, um die Potenziale solcher Freaks zu fördern. Zumindest Führungskräfte können Bedingungen schaffen, die mittels durchlässigerer, flexiblerer Arbeitsmodelle Kreativität und Leistungsbereitschaft, Begeisterung und Arbeitgeberattraktivität steigern. In vielen Unternehmen geht Leidenschaft durch Bürokratie und Prozessdenken, Hierarchien und Intrigen sowie insbesondere falsche Beförderungs- und Anreizmodelle verloren. Wie sehen denn die meisten Karrieremodelle in Unternehmen aus? Liegt nicht der Fokus immer noch auf der Führungs- statt auf der Fachkarriere? Eine Führungsaufgabe mit soundsoviel Budget und Mitarbeitern genießt oft höheres Ansehen und wird als Aufstieg gehypt, während die Fachkarriere eher ein Schattendasein führt.

„Unternehmen brauchen eben nicht nur Führungskräfte“

Wie werden denn die Arbeiten und Ideen von Freaks überhaupt wahrgenommen oder wertgeschätzt? Werden sie nicht eher belächelt und nicht so richtig für voll genommen? Bereits in dem Buch „Die Akte Personal“ wurde die grundlegende Forderung an eine zukunftsfähige Führungskräfte- und Personalentwicklung gestellt: Gebt dem Unternehmen was es braucht und nicht was es will! Und Unternehmen brauchen eben nicht nur Führungskräfte – sie brauchen gerade in disruptiven Arbeitswelten öfter die Freaks, die Tüftler, die Querdenker (siehe Blog vom 22 April 2016).

Zukunftsfähige Führung zeichnet sich gerade dadurch aus, eine Balance aus Struktur und Agilität, Tradition und Irritation zu gestalten.

Recherchen in nachhaltig erfolgreichen Unternehmen haben immer wieder gezeigt, wie wichtig es ist, derartige Mitarbeiter in ihrer Arbeit zu unterstützen und ihre Persönlichkeit zu akzeptieren, indem man sie ggf. auch wie in einem Biotop vor vielen (nicht allen) Einflüssen der Außenwelt oder Unternehmenseigenarten schützt. Nicht umsonst gehen viele Unternehmen dazu über, ihre innovativen Vorhaben an unabhängige Standorte bewusst ohne Bezug zu den oft hierarchischen, eingefahrenen Strukturen auszugliedern. Am Ende entscheidet jedoch die Einstellung der Führung und der Kollegen, deren Toleranz, Offenheit und Wertschätzung gegenüber solchen Persönlichkeiten und damit über Erfolg und Misserfolg vieler Projekte.

Vielleicht sollte abseits aller corporate cultural correctness im Verhalten und Angepasstsein an Strukturen doch öfter der Ruf durch Unternehmensflure hallen: „Rettet die Freaks!“

 

 



Kommentare

  1. / von Blog | Creating Corporate Cultures | Kill the Boss: Schwarmintelligenz ersetzt Führungskräfte! - Blog | Creating Corporate Cultures

    […] die Idee von Selbstbestimmung und Schwarmintelligenz ist – sie setzt eines zwingend voraus: das richtige Team. Kollegen, die nicht nur fachlich top sind, sondern auch über ein hohes Maß an Eigenmotivation […]

  2. / von Blog | Creating Corporate Cultures | Wer hat Angst vor der digitalen Disruption? - Blog | Creating Corporate Cultures

    […] aber haben die Firmen diese „Auffälligen“ vor die Tür gesetzt. Insofern scheinen die Appelle der Berater an die in den Unternehmen „verbliebenen“ […]

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