Transformation

De-Institutionalisierung und Rollen – Was Unternehmen und Psychiatrie gemeinsam haben

„Ende der Veranstaltung – Anfänge der Chronisch-Kranken-Psychiatrie“ – klingt nicht gerade nach einem Buch, das man im eigenen Bücherregal auf Anhieb unter der Management-Literatur verortet. Eine Krankengeschichte – so hatte der Herausgeber Klaus Dörner die Erfahrungsberichte überschrieben. Nicht zu verwechseln übrigens mit Dietrich Dörner, dem Autor von „Die Logik des Misslingens“. Auch immer wieder lesenswert, aber nein, hier handelt es sich um den Modernisierer der Psychiatrie mit der Zusammenfassung der Erfahrungen aus verschiedenen Blickwinkeln bei den Reformbestrebungen Ende des letzten Jahrtausends.

Natürlich muss und soll an dieser Stelle gleich dem Verdacht vorgebeugt werden, dass man Unternehmen und Führung in irgendeiner Weise in einen Zusammenhang mit der Psychiatrie bringen möchte – Gott bewahre. Aber manchmal kann man gerade auch aus fachfremden Erfahrungen und dem Versuch der interdisziplinären Übertragbarkeit einiges für die eigene Disziplin, die eigenen Prozesse und vor allen Dingen die eigene Reflexionsfähigkeit lernen. Bei genauerer Betrachtung hält das Buch nämlich durchaus für die Transformation von Organisationen im digitalen Zeitalter einiges an Inspiration bereit. Aber der Reihe nach.

Teil 1: Die Neujustierung der Beziehungsebene

Am Anfang war auch in der Psychiatrie wie in vielen anderen Organisationen das Bild der Führungsstruktur vom traditionellen, asymmetrischen Beziehungsverhältnis geprägt: Hier der Arzt mit all seiner Kompetenz und Autorität und da der Patient mit seiner Unmündigkeit als passiver Befehlsempfänger für die Botschaften des Pflegepersonals. Hinzu kam die Kommunikation in einer Fachsprache, die für Patienten oft erhebliche Anstrengungen zur Decodierung erforderte. Dazu kommt – wie im Dörner-Buch formuliert – die Argumentation im Sinne einer „Schutzhaft der Nächstenliebe“. Oder m. a. W. „Es ist doch nur zu ihrem Besten“.

Teil 2: Die Überwindung von Glaubenssätzen

Wichtig beim Aufbrechen tradierter Strukturen bleibt die Suche nach und die Überwindung von Glaubenssätzen. Beispiel 1 die damalige Haltung vieler Ärzte: „Die Patienten wollen Sicherheit und deshalb gern in Einrichtungen versorgt werden!“ Falsch! Viele Patienten waren ganz anderer Meinung, denn sie wollten ein selbstbestimmtes Leben außerhalb der Einrichtung. Beispiel 2 die damalige Annahme vieler Ärzte: „Wenn schon nicht in Anstalten, dann doch sicherlich in kleinen Wohngemeinschaften unter ihresgleichen“. Auch falsch! Die meisten Patienten wollten ein ganz normales eigenes Leben wie jeder andere Mensch auch.

Teil 3: Beginn der De-Institutionalisierung

Am Ende stand das Ziel, wie man nicht mit immer mehr und immer größeren Einheiten, sondern mit immer weniger größeren dafür aber mehreren kleineren und unabhängigeren Einheiten auskommen kann. Und damit einem Paradigmenwechsel weg von „veranstalteten Institutionen“ mit Therapieplänen und spezifischen, arbeitsteiligen Zuständigkeiten hin zu einer agilen, sich selbststeuernden und lernfähigen Organisation. Neben der äußeren De-Institutionalisierung, z. B. durch neue Prozesse, erfordert es auch eine innere De-Institutionalisierung, z. B. durch Augenhöhe in der Kommunikation und durch eine gemeinsame Sprache.

Teil 4: Wandel im Rollenverständnis

Damit beginnt der schwierigste Teil, denn es geht um Macht. Der „Gott in Weiß“ musste lernen, Autorität abzugeben. „Ich sage dir, was dir fehlt, und behandle dich so“ gehörte in die hierarchische Mottenkiste. Gleichzeitig verlangte es von Patienten die Bereitschaft, nun Verantwortung für das eigene Leben zu übernehmen und die Konsequenzen daraus zu tragen. Das eine geht nicht ohne das andere – und beides braucht seine Zeit. Es beginnt bei der Überprüfung systemkonformer – sprich: stabilisierender – Äußerungen und endet beim Ausprobieren neuer Lebens- und Umgangsformen. Voraussetzung ist eine Selbstreflexion im Denken beider Parteien.

Teil 5: Wandel in der Kultur

Für beide Seiten ging es – wie im Dörner-Buch ausdrücklich formuliert – um eine Abkehr von der so genannten „Anstaltskarriere“, in der man sich, ob als Arzt oder Patient, einrichten konnte. Damit stellt sich eine grundlegende Frage für die Kultur: Was braucht es, um als Patient außerhalb von geordneten Strukturen leben zu können? Also weg von einer Defizithaltung hin zu einer Ressourcen- und Kompetenzperspektive. Damit geht die Überwindung einseitiger professioneller Lösungskompetenzen ebenso einher wie die Aufgabe zum Empowerment in Eigenverantwortung ggf. über Fortbildungsprogramme, Coaching etc.

Gibt es Parallelen zur Führung…?

Auch wenn das Buch schon 20 Jahre alt ist und sich ausschließlich auf die Psychiatrie bezieht – kommen einem auch heute einige Aspekte sehr bekannt vor: Glaubenssätze, Machtfragen, Auflösung starrer Strukturen … Ein Aha-Erlebnis war die notwendige, gegenläufige Entwicklung bei den Beteiligten im Sinne kommunizierender Röhren: die Neudefinition im Rollenverständnis der Ärzte bei gleichzeitiger Verantwortungsübernahme durch die Patienten! Zugegeben: In der Psychiatrie sicherlich durch die besondere Arzt-Patient-Beziehung immer ein Extremfall. Gibt es aber nicht trotzdem Parallelen zur Führung? Und spiegelt sich dann in der Vielzahl von Artikeln, Blogs etc. nicht zu sehr die einseitige Forderung nach Veränderung in der Rolle der Führungskraft wider.

Aber was ist mit den Mitarbeitenden selbst? Wie ist es um ihre Bereitschaft zur Verantwortungs- und Risikoübernahme, um ihre Werte und Arbeitseinstellung bestellt? Agile und mobile Arbeitsformen verlangen ein hohes Maß an Selbstorganisation und Eigenverantwortung – vor allen Dingen aber an Kooperations- und Konfliktmanagement. Es beinhaltet die Fähigkeit, selbst die Verantwortung zur Sicherstellung von Kommunikation, Kooperation und Koordination zwischen den Beteiligten zu tragen. Mit allem, was auch an Abstimmungen und Reibungen dazu gehört. Erst einmal ungewohnt und ein echter Rollen- und Perspektivwechsel – für Mitarbeitende und Führung!

Dazu passt dann aber auch keine Führung per Ansage nach dem Motto: „Ich will ja nur dein Bestes!“ Denn einerseits wissen das dann die Mitarbeitenden im Idealfall sowieso selbst am besten und andererseits gilt das alte Bonmot des legendären Management-Trainers Klaus Doppler auf den obigen Ausspruch: Eigentlich will dann doch die Führungskraft nur für sich selbst das Beste! Leben und arbeiten, führen und geführt werden wird in der Digitalisierung eben nicht einfacher. Es kommt auf eine kontextabhängige, wirksame Führung an. Nur mit einem gravierenden Unterschied zu früher: Mal führe ich und mal werde ich geführt. Hoffentlich kein Fall für den Psychiater?

Muss sich was verändern?

Eines steht außer Frage: Führung muss sich verändern! Nein, anders gesagt: Führung kann sich verändern. Aber nur, wenn beide Seiten ihre Hausaufgaben machen. Das gilt für die Führungskraft, die nur so tut, als delegiere sie Aufgaben und Verantwortung, um dann alle 5 Minuten zu fragen, wie weit der Mitarbeitende denn ist. Das gilt aber auch für die Mitarbeitenden, die zwar Partizipation, Eigenständigkeit und Delegation einfordern, dann aber Verantwortung im entscheidenden Moment wieder an die Führung re-delegieren. Beides hat nicht nur wenig mit modernen Führungsstrukturen und agilen Arbeitsmethoden zu tun – es ist auch höchst unfair.

In dem Band findet sich aber auch noch eine interessante, inspirierende Wortschöpfung: „Die haltende Kultur“! Eine Kultur, die einerseits eine Atmosphäre schafft, in der Unterschiedlichkeiten und das „So-Sein-Dürfen“ akzeptiert und bestätigt werden (1. Aufgabe), und in der andererseits bisherige, habituierte Verhaltens- und Denkmuster in Frage gestellt werden (2. Aufgabe). Es wäre eine Kultur, die organisational und individuell entwicklungsfördernd wirkt, weil sie drei Funktionen vereint: Bestätigung, Widerspruch und Fortdauer. Am Ende verbindet sich damit die Herausforderung, dass man nicht für sich Macht fordert, sondern anderen hilft, sie zu entdecken und zu nutzen.

Und noch eine Passage stimmt nachdenklich: Nämlich, dass jemand, der 20 Jahre in einer Institution lebt, weder Vergangenheit noch Zukunft noch Wünsche noch Wahlmöglichkeiten kennt, und damit das Leben nur als ewige Wiederkehr der Gegenwart erlebt. Auch wenn sich diese Aussage ausdrücklich auf die Psychiatrie bezog – ein Seitenhieb auf Verfahrensweisen in vielen Organisationen darf trotzdem erlaubt sein. Deshalb ist es auch in Unternehmen die Aufgabe von Führung und HR in Abstimmung mit den Mitarbeitenden solchen Situationen durch moderne Arbeitsstrukturen und -methoden sowie zeitgemäße Lebens- und Karriereplanungen vorzubeugen.

Manche Dinge haben sie trotz aller Unterschiedlichkeit dann doch bei Reformprozessen gemeinsam, die Psychiatrie und die Wirtschaft. Also das Buch von Dörner zurück ins Bücherregal … und wenn es nur ab und zu daran erinnert, eigene Gedanken zum Perspektiv- und Rollenwechsel oder zur De-Institutionalisierung und Re-Historisierung von Lebens- und Unternehmensgeschichten anzustrengen. In der Zwischenzeit kann man dann das Buch „Die Logik des Misslingens“ von Dietrich Dörner lesen …



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