Panik in der Pyramide – Führung im Wandel
Ach, das waren noch Zeiten als Führung in erster Linie als ein reines Top-Down Phänomen verstanden wurde. Man hatte einen Boss, der hatte einen Boss und der hatte auch einen Boss. An der Spitze der Organisation saß der größte Boss – quasi der Pharao. Dieser hat angewiesen, verkündet und angeordnet. Er hat beschützt, wenn der Wind wehte und zu ihm konnte man immer gehen, wenn man nicht mehr weiterwusste. Wenn irgendetwas nicht mehr stimmte, wurden von oben Veränderungen angeordnet, die bereits in den Hinterzimmern besprochen wurden. Erfahren haben wir davon bei Mitarbeiterversammlungen, meist in Form von PowerPoint Folien. Jeder wusste, wo er ab sofort zu arbeiten hat und wer sein Chef ist. All das hat uns auch vereint. Vereint in den Schuldzuweisungen. Denn wenn etwas nicht lief, ging der Fingerzeig ganz automatisch in eine Richtung: „Die da oben“. Jeder wusste, wer gemeint war und alle waren sich einig.
Mit den großen, umfänglichen Disruptionen im Umfeld von Organisationen jeglicher Art – nennen wir sie die drei D: Digitalisierung, Demographie und (politische) Destabilisierung – kommt dieses Konstrukt spürbar unter Druck. Ähnlich wie Pyramiden, wurden Organisationen über viele Jahre als unveränderliche Stabilitätsanker verstanden bei der Veränderung – wenn überhaupt – punktuell, meist als Reaktion auf eine kommunizierte Krise aus dem Top-Management und dann als Last verstanden wurden. Heute erleben wir Veränderung als Dauersituation. Dabei hat sich nicht nur die Dichte, sondern auch die Qualität von Veränderung gewandelt. Veränderungsarbeit wird nicht mehr als Frikkelarbeit an Organigrammen verstanden, sondern sie erfolgt auf den Vorderbühnen der Organisation – und der Kunde macht dabei fleißig mit, denn er/sie gibt an, welche Leistungen er/sie von einer Organisation erwartet. Schlechte Zeiten für Planungsfetischisten.
Führung kommt in diesem Setting eine ganz besondere Bedeutung zu: In Zeiten dynamischer und vielschichtiger Veränderung wird sie zu einer organisationalen, kollektiven Kompetenz. Sie reduziert sich nicht mehr (nur) auf die Spitze der Organisation, sondern erfolgt mindestens genauso umfänglich aus der Mitte der Organisation. Hinzu kommt, dass Führung nicht mehr nur auf Führungskräfte reduziert wird, sondern sämtliche Mitglieder einer Organisation umfasst. Während Letzteres sehr stark mit dem Wunsch nach kontinuierlichem Feedback sowie non-monetären Perspektiven nachwachsender Arbeitnehmergenerationen korreliert, stellt das Führen aus der Mitte einen spürbar größeren Paradigmenwechsel dar.
Schauen wir zuerst auf die Spitze der Organisation: Ein Top-Management muss heute nicht nur das Innere der Organisation, d. h. Regelsysteme und Arbeitsprozesse im Blick haben. Es muss vielmehr auch in der Lage sein einen Perspektivwechsel vorzunehmen, der es ihm ermöglicht von außen auf die Organisation zu schauen und dabei Signale und Stimuli aus dem Umfeld aufzunehmen und zu bewerten.
Ein solches Agieren ist nicht immer widerspruchsfrei. Während die alte Welt noch präsent ist, schauen alternative Zukünfte schon um die Ecke. Die Folge: Irritation, Unsicherheit, Widerstand. Für Führung bedeutet dies, Zielkonflikte, Dilemma und Machtdynamiken in Organisationen zu erkennen, zu verstehen und zu steuern. All dies sind Herausforderungen, auf die man nur bedingt vorbereitet werden kann und die in erster Linie einer entsprechenden Haltung bedürfen als einem Set an perfektionierten Führungstechniken.
Aber nicht nur an der Spitze von Organisationen rumpelt es. Auch Führungskräfte im Mittelbau, bzw. die gesamte Mitarbeiterschaft einer Organisation bekommen in Zeiten kontinuierlichen Wandels eine neue Rolle. Das beginnt damit, dass jeder Einzelne einer Organisation nicht nur eine Zuständigkeit für einen Aufgabenbereich besitzt, sondern auch eine Verantwortung für die Gesamtorganisation. Was war nochmal der Unterschied zwischen Zuständigkeit und Verantwortung? Zuständigkeiten lassen sich in Funktionsbeschreibungen und Arbeitsverträgen abbilden und werden im Führungsdialog nachgehalten. „Du bist zuständig dafür, dass abc in der Zeit von x bis y erfolgreich abgearbeitet wird“. Kennen wir. Verantwortung hingegen ist größer. Verantwortung bedeutet zu fragen, ob das was man den ganzen Tag macht, tatsächlich auf das Leistungsversprechen der Organisation einzahlt. Und dann den Mut zu haben, dies auch in Frage zu stellen. Verantwortung bedeutet, den eigenen Gestaltungsspielraum zugunsten des Zielbildes der Organisation kontinuierlich zu hinterfragen und ggf. neu zu definieren. Verantwortung bedeutet im Flur den Müll aufzuheben auch wenn dafür doch eigentlich Andere zuständig sind.
So ergeben sich auch für Mitarbeiter neue, ungewohnte Situationen, die sich im ersten Moment durchaus anders anfühlen. Ein Beispiel: Die Frage „Was soll ich denn jetzt tun, Chef?“ im Rahmen der Regelrücksprache wird plötzlich mit der Rückfrage „Was denkst Du denn?“ beantwortet. Rückdelegation, ein fantastischer Modus Verantwortung auf subtile Weise, abzulehnen, ist plötzlich nicht mehr möglich. Das bedeutet nicht, dass fragen nicht mehr erlaubt ist, aber Verantwortung zu übernehmen geht eben weit über das Abarbeiten von Aufträgen hinaus. Statt Anweisung, Kontrolle und Abnahme rücken nun Kontextgestaltung, Mediation und Coaching in das Zentrum von Führungsarbeit.
Führung bedeutet daher neben einem Umgang mit hohem Druck und steigender Unvorhersehbarkeit in erster Linie Entscheidungen unter hoher Unsicherheit treffen zu können – und das betrifft eben nicht nur die Führungskraft, sondern die Mitarbeiter genauso. Führung wird damit zu einem expliziten Teil von organisationalem Wandel und gestaltet sich dialogisch. Verbissener Kampfesmut in den Führungsetagen weicht einer heiteren Besessenheit, die eigene Organisation voran zu bringen.
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