„Bewerben war gestern“
Oft verschränkt die 1-er Note den Blick auf Leidenschaft und Verantwortung, dominiert das Funktionieren in Hierarchien über Neugier und Querdenken. Daher braucht es nicht nur eine Neubewertung von Skills, sondern auch Lernorte im Sinne von Erlebnisräumen, in denen Menschen sich und ihre Fähigkeiten, ihre Leidenschaften ihre Bestimmung erproben können.
Das Camp Q ist so eine Inspirationsquelle mit Vernetzungsmöglichkeit, um durch Querdenken und Reflexion schneller, intensiver und anders zu lernen. Dieser Blogbeitrag unserer Kollegin Martina Schwenk setzt sich mit den heutigen Modi der Bewerbungs- und Auswahlverfahren, sowie mit dem Blendwerk von Abschlüssen und Titeln und der Kompetenzanerkennung auseinander. Ihre Impulse zum Perspektivwechsel mit Blick auf die Aus- und Weiterbildung passen damit perfekt zu unserem Ansatz in der Leadership Konferenz für Querdenker.
Editorial von Martin Spilker,
Director des Kompetenzzentrums Führung und Unternehmenskultur
Wann haben Sie das letzte Mal Ihre berufliche Haut zu Markte getragen um sich zu bewerben? Bei mir war es vor drei Jahren – allerdings „nur“ organisationsintern. Das hatte den Vorteil, dass die Bewerbung weniger formell ausfallen durfte, als bei anderen Bewerbungen im vorhergehenden Berufsleben.
Meine Unterlagen lagen diesmal in der Personalabteilung schon vor, ich war durch meine Arbeit im Kompetenzzentrum sichtbar geworden und hatte ein internes Netzwerk, was beim Jobwechsel unterstützend wirken konnte.
Aus dem Kompetenzzentrum für Unternehmens- und Führungskultur habe ich mich verabschiedet, um einen Perspektivwechsel zu machen: weg von der Führungskräfte- und Kulturentwicklung (zumeist international agierende Großunternehmen betreffend) hin zur Validierung und Anerkennung von informell und non-formal erworbenen beruflichen Kompetenzen von Menschen, die langjährige Berufserfahrung haben, aber keinen einschlägigen Berufsabschluss.
Und selbst wenn wir formal qualifiziert sind und einen Berufs- oder / und Studienabschluss haben, sammeln wir im Laufe unserer beruflichen Entwicklung jede Menge Kompetenzen, über die die einmal erworbenen Titel oder Zeugnisse nur bedingt Aufschluss geben. Sie betreffen Zeiträume und Leistungen, die lange zurückliegen. An vielen Stellen bleibt zu beweisen, ob der Mensch im Arbeitsleben halten kann, was seine Papiere versprechen.
In unserer Studie „Können belegen können“ haben in 2016 Arbeitgeber und Arbeitnehmer ihre Sicht auf Lernwege, Kompetenzen und Zertifikate mit uns geteilt. Beide Gruppen waren der Ansicht, dass informelles Lernen on-the-job am wichtigsten ist, um erfolgreich arbeiten zu können. Non-formales Lernen (z.B. in betriebsinternen Schulungen) oder formales Lernen (organisierte, abschlussorientierte Bildungsgänge) fallen dahinter deutlich ab. Die gängigen schriftlichen Nachweise helfen jedoch nicht, dass informell Gelernte sichtbar zu machen und – gleich einem Eisberg – bleiben die meisten job-relevanten vorhandenen Kompetenzen unsichtbar.
Bewerben: Ist die klassische Bewerbungsmappe tot? Wie macht man Kompetenzen sichtbar?
Diplome, Arbeitszeugnisse, Trainingszertifikate sind immer noch Inhalt von Bewerbungen. Zunehmend digitalisiert übermittelt, zeugen sie von unseren Leistungen der Vergangenheit. Lebenslang Gelerntes wird detailreich, manchmal lückenhaft, interpretationsfähig oder –bedürftig eingereicht, um Entscheidern im Unternehmen im ersten Schritt als Grundlage zu dienen, neugierig auf uns zu werden. Oder ein Algorhythmus sucht darin nach Schlüsselwörtern, was bei ausreichender Trefferquote zum nächsten Schritt im Bewerbungsprozess führt.
Dann können wir noch per sozialer Netzwerke unsere Profile platzieren. Uns werden dort von Testimonials virtuell „Kenntnisse“ oder „Top-Fähigkeiten“ zugewiesen. Oder man qualifiziert sich bei Online-Anbietern und erwirbt Badges und Zertifikate, die dann im besten Falle sofort dem Profil im sozialen Netzwerk hinzugefügt werden.
Relativ neu sind Portale wie whyapply. Dort habe ich mir übrigens die Überschrift dieses Beitrags geborgt. Whyapply verzichtet auf Lebenslauf, Zeugnisse etc., um Bewerber und Unternehmen zusammenzubringen.
Wie und ob es funktioniert, können Sie im Blog von Stefan Scheller nachlesen. Whatchado ist ein weiteres Portal, dass beim Matching von Bewerber, Job und Unternehmen auch den „cultural fit“ einbezieht und als Medium Videos nutzt. Bei sumry stellen sich Bewerbende in ihrer interaktiven Timeline dar – vor allem mit ihrer Berufserfahrung, den persönlichen Fähigkeiten und ihren Wertvorstellungen.
Fachwissen erwerben und darstellen
Und zum Schluss nochmal ein Werbeblock für unsere Produkte im Dienst der guten Sache, Menschen in Lohn und Brot zu bringen. Unsere Arbeit im Programm „Lernen fürs Leben“ betrifft unter anderem die Anerkennung der mitunter umfangreichen Berufserfahrung von rund 6 Millionen Menschen in Deutschland, die keinen Berufsabschluss haben.
Die Zahl kann dann noch mal erhöht werden, um die Zahl der Menschen mit Fluchterfahrung, die aus Ländern zu uns gekommen sind, wo es kein formalisiertes Berufsbildungssystem gibt, wie hier, in der Schweiz und Österreich – und sonst derart nirgendwo.
Im Projekt Myskills (so der Titel der Bundesagentur für Arbeit (BA) für die Kooperation mit uns) haben wir in den letzten zwei Jahren für 30 Berufe und in sechs Sprachen Tests entwickelt, mit deren Hilfe Menschen zeigen können, was sie können (Achtung – in diesem Projekt hat sich die BA wiedermal sehr beweglich gezeigt, wie in einem der letzten Beiträge in diesem Blog hier schon beschrieben).
Dank des gut organisierten und standardisierten deutschen Berufsausbildungswesens konnten wir entlang der existierenden Ausbildungsordnungen und Rahmenlehrplänen mit zusätzlicher Expertise von Praktikern und Wissenschaftlern die Tests entwickeln.
Sie machen IT-basiert, wissenschaftlich validiert berufliche Handlungskompetenz sichtbar. In Zeiten von Fachkräfteengpässen sind die Tests Grundlage für einen echten Win-Win: es profitieren Arbeitsuchende und Arbeitgeber.
Die Tests messen, was ein Mensch in der Berufspraxis kann, welche Arbeitsschritte er jetzt schon erledigen kann und sie geben Hinweis, wo noch Qualifizierung notwendig ist. Zusätzlich, als den Tests vorgelagerter möglicher Schritt, haben wir www.meine-berufserfahrung.de entwickelt. Es handelt sich um eine Selbsteinschätzung, mit der Geflüchtete und informell Qualifizierte momentan in acht (bald allen 30) Berufen dokumentieren können, wie viel Erfahrung sie in den zentralen Tätigkeiten eines Berufs haben.
Wie geschrieben: inhaltlich definierte Tätigkeitsfelder mit eindeutiger Berufsbezeichnung kennen die wenigsten Menschen. Dank der Selbsteinschätzung bekommt beispielsweise ein Geflüchteter erstmal eine Vorstellung davon, was sich hinter einem Beruf verbirgt und eine Idee, welche Kompetenzen in einem bestimmten Beruf gefordert werden.
Eine Selbsteinschätzung dauert nur ca. fünf Minuten. Der Nutzer kann dabei zwischen sechs Sprachen wählen. Also: weitersagen, weiterleiten, teilen – oder selbst ausprobieren, denn jeder Mensch erwirbt auf informellem Wege viel mehr Kompetenzen, als er denkt.
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