Die ökonomischen Schlafwandler!
Taumelt ein Wirtschaftsriese in die Wirtschaftskrise?
Psst, leise. Sonst wacht er auf, der schlafwandelnde Michel, während er durchs Traumland wandert! Er träumt doch tief und fest von den guten Zeiten mit Corona:
Kaum eine Situation hat seit dem Auftreten von Corona und dem damit verbundenen Lockdown so verwirrt, wie die Ankündigung einer Rezession. Nur die gefühlte Wirklichkeit will einfach nicht mitmachen und scheint sich (mal wieder) nicht an Prognosen auf Basis von Modellen zu halten. Zwar ist das BIP in den ersten beiden Quartalen 2020, minus 2 % in Q1 und mit minus 10 % in Q2 so stark wie nie zuvor gesunken – wir haben also eine Rezession. Aber irgendwie will die Rezession in den Köpfen nicht so recht stattfinden. Das Leben geht – eingeschränkt – aber doch irgendwie weiter.
Auch die Aktienkurse verwirren. Die Börse goutiert… ja was eigentlich? Wenn die Kurse die zukünftigen Gewinne der Unternehmen abbilden, ist das aktuelle Kursniveau irgendwie so nicht nachvollziehbar. Gleichzeitig versuchen sich die Experten in Prognosen – zunächst tendierten sie in ihren Szenarien zu einem V, doch zuletzt eher zu einem langgestreckten U, aber nur ganz wenige wagen sich gar an ein L.
Stell´ dir vor, es kommt eine Krise und keiner nimmt es wahr. In Anlehnung an das Bonmot aus vergangenen Demonstrationsjahren musste es einem so in Deutschland vorkommen. Ja, zuletzt tauchten sogar leichte Pflänzchen von Erholung in manchen Indices auf. Selbst der DAX erholte sich schnell aus dem krisenbedingten Tal Anfang März. Inzwischen spricht man in manchen Branchen und Unternehmen sogar schon von einer leichten Erholung. Ist alles also gar nicht so schlimm? Malen die Volkswirte mal wieder unnötig schwarz? Sind die Wirtschaftswissenschaftler – wie so oft – mal wieder nicht in der Lage, valide Prognosen zu erstellen?
Keine Zeit für Rezessionen im Traumland für Schlafwandler
Sollte es wirklich sein, dass einschlägige Nachrichten zu angekündigten Betriebsschließungen und zu Personalabbau einfach so ignoriert werden? Fast könnte man den Eindruck gewinnen, der Arbeitsplatzabbau würde überall, nur eben halt nicht im eigenen Umfeld passieren. Aber eigentlich sollte doch jeder in seinem Umfeld wahrnehmen, wie stark es einige Selbständige getroffen hat, das Unternehmen Konkurs anmelden müssen und Mitarbeitende ihren Job verlieren. Wie Studierenden, die jetzt fertig geworden sind, auf einen Arbeitsvertrag hoffen, oder Mitarbeitende in der Probezeit gekündigt bzw. schon vorher mitgeteilt bekommen, dass die Anstellung nicht stattfinden wird.
Man scheint zwar diese Einzelschicksale wahrzunehmen, aber man sieht augenscheinlich nicht das große Ganze, was droht. Als gälte das nur für andere. Wird naiver Weise tatsächlich geglaubt, dass man so mir nichts, dir nichts mit einer Zeit lang Kurzarbeit eine Pandemie von mehreren Monaten, vielleicht Jahren überbrücken kann? Dass es gar nicht so schlimm wird?
Verfolgt man die Entwicklungen in unserer Gesellschaft oder unseren Städten der letzten Wochen – die durchaus vollen Einkaufsstraßen, die Strände, die Partys in Bars und Cafés – dann kann man diesen Eindruck in vielen Teilen der Bevölkerung gewinnen. Rezession? Welche Rezession? Eine gewisse Form von Tagträumerei scheint über weiten Teilen des Landes zu liegen. Genährt durch einen Geschäftsklimaindex, der im Juni um fast 7 % auf 86,2 % gestiegen ist. Die deutsche Wirtschaft sieht Licht am Ende des Tunnels? Hoffentlich ist es nur nicht der entgegenkommende Zug.
Endstation Lethargie: Schlafwandelnd in die Zukunft?
Wie die Schlafwandler aus dem gleichnamigen Christopher Clark-Buch scheint ein Land und eine Wirtschaft in die Rezession zu taumeln. Wie 1914 gibt es nicht einen einzelnen Akteur, sondern eine Kette von Entscheidungen verschiedener Akteure, die keinesfalls unausweichlich sind. Wie Schlafwandler wollte man die Zeichen an der Wand nicht wahrhaben oder hat sie sich wohl schön geschlafen. Die Ernüchterung kann erschreckend sein. Aktuell melden die Ticker tiefe Einbrüche in der US-Wirtschaft. Deutschlands Wachstumsrückgang wird mittlerweile auf 10 % beziffert.
Und der Absturz kann radikaler, tiefer und schneller erfolgen als erahnt, wenn die Kettenreaktionen eintreten und damit vielen Akteuren das Ausmaß bewusst wird. Hat sich niemand gefragt, wer in Zeiten einer Pandemie in Häuser, Autos etc. investiert? Wer noch Urlaub in Hotels und Ferienanlagen macht, die schon jetzt unter den Einschränkungen ächzen? Klar, das Lieblingsrestaurant hat wieder auf. Aber wann war es denn letztes Mal richtig voll? Fragt sich noch jemand, wer noch freiwillig in Länder reist, die als Risikogebiete gelten? Und wer nicht reisen kann oder will, wird auch keine Tickets kaufen – sei es für Busse und Bahn, Flugzeug oder Schiff.
Die momentan 6 bis 7 Millionen Menschen in Kurzarbeit nach Hochrechnung der BA von Anfang des Jahres spüren das schon. Die Zahl der Arbeitslosen ist zwischen März und Juli 2020 um rund 575.000 gestiegen. Und die Tafeln in Deutschland nehmen eine neue Bedürftigkeit wahr. Eine quasi abgesicherte Klientel – oft dazu noch im Homeoffice – darf nicht über die Dramatik hinwegtäuschen. Im Gegenteil: Sie sollte sich als Ausnahme von der Regel ihrer Privilegien bewusst sein.
Dazu kommen die Einbrüche in der Produktion in vielen Branchen durch gekappte Wertschöpfungs- und Lieferketten. Mittlerweile kann man wieder etwas produzieren – aber eben auf Halde. Der Wirtschaftsmotor China muss erst wieder richtig anspringen. Aber auch hier dasselbe Bild: Eher Produktion auf Halde oft gekoppelt mit staatlich angekurbelten Programmen.
Wacht endlich auf, Schlafwandler, die Nacht ist längst vorüber
Warum war bzw. ist man so blauäugig gegenüber der prognostizierten Krise? Ein Grund mag darin liegen, dass man sie ja nicht so richtig zu spüren bekommt. Teils auch durch aufgestocktes Kurzarbeitergeld, teils auch, weil man ja immer noch geordnet seiner Arbeit nachgehen konnte. Ob im Homeoffice oder nicht. Irgendwie: Business and Party as usual nur eben in Zeiten von Corona.
Vielleicht liegt es aber auch daran, dass es für Deutschland im Vergleich zu anderen Ländern weltweit ja immer noch irgendwie gut gegangen ist. Die Finanzkrise 2008? Hätte schlimmer kommen können. Und man ist doch das Export-Land schlechthin. Immer neue Rekorde. Produkte „Made in Germany“ waren doch immer auf den internationalen Märkten gefragt. Also, warum sich Sorgen machen?
Zugegeben: Diese Krise ist außergewöhnlich! Kein reiner Nachfrageeinbruch, den man mit einem Keynes´schen Konjunktur-Paket mal so eben aushebelt. Kein Produktionseinbruch, der sich kurzer Hand mit einer gelockerten Zins- oder Geldpolitik beheben lässt. Diese Krise ist leider beides – und damit hat man nicht gerechnet und darauf hat man nur unzureichende Antworten.
Also schlafwandelt man in Politik und Verbänden, Unternehmen und Wirtschaft auch weiterhin auf den alten Wegen und mit den wohlbekannten Mitteln. Und angesichts der sich jetzt auftuenden Programme, stellt sich natürlich die Frage der Belastung zukünftiger Generationen. Auch hier wiegt man sich in schlafwandlerischer Sicherheit, dass schon alles irgendwie wird. Es wäre leichtsinnig zu glauben, die Modelle seien falsch, nur, weil der Timelag einen in Sicherheit wiegt. Es bedarf keines ausgeklügelten Prognoseinstrumentariums, um die Auswirkungen eines Wachstumsrückgangs (schönes Wort!) vorherzusagen.
Aber Vorsicht: Schlafwandler weckt man sanft…
Wenn jemals ein Ruck durch Deutschlands Wirtschaft und Gesellschaft gehen musste – dann jetzt! Augen zu und durch, gilt nicht mehr. Augen auf und anpacken, ist das Motto der Stunde. Lassen wir uns nicht von sozialromantischen Aktionen und populistischen Attitüden blenden. Der konjunkturelle Einbruch kann sehr, sehr hart werden. Es kann eine Bruchlandung werden.
Das wäre auch der erste Punkt, um mit der sich abzeichnenden Krise umzugehen: Offenheit und Ehrlichkeit! Lieber jetzt Transparenz durch eine ernsthafte Auseinandersetzung mit dem Thema, als später Nachrufe auf Branchen und Unternehmen, Arbeitsplätze und Wohlstand. Das kann und sollte man einer demokratischen Gesellschaft noch zumuten können. Ansonsten hätten wir wirklich ein Problem.
Aufbruchstimmung der Macher gegen die Lethargie der Schlafwandler
Andererseits hat gerade die Coronakrise gezeigt, wie viel Kreativität und Potenzial in vielen Menschen steckt. Warum unterstützen und nutzen wir es so wenig? In einer Video-Konferenz berichteten junge Gründer und Gründerinnen, wie sie mit der Krise umgehen. Nämlich wie immer, weil sie sich dauernd in irgendeiner Krise sehen. Pragmatisch, aber mit Ernsthaftigkeit.
Sind Teile der Gesellschaft also schon zu saturiert? Ja, an vielen Stellen durfte man in den letzten Jahren schon eine gewisse Lethargie feststellen. Deshalb braucht es wieder eine richtig verstandene gesellschaftliche, aber auch unternehmerische Aufbruchstimmung. Keine Lifestyle-Gründer. Ein ungewöhnlicher, fast despektierlicher Vorschlag in solch´ einer Zeit.
Wiederaufbau-Programme mögen jetzt wichtig und ein erstes Beruhigungspflaster sein. Trotzdem der Aufruf: Fördert die Leistungsträger in der Wirtschaft, lasst die Aktivposten in unserer Gesellschaft endlich wieder machen. Und wertet die Arbeit der vielen Menschen auf, die die Gesellschaft in der Krise am Leben gehalten haben: die Kassiererinnen an den Kassen, das Personal in Krankenhäusern und Pflegeeinrichtungen, die Müllabfuhr und viele, viele andere – sie alle leisten – und riskieren – gerade ziemlich viel. Wir müssen Arbeit neu denken. Und wer vor der Krise einem gewissen, wie immer gearteten Arbeitsethos anhing, wird es in und nach der Krise nicht so ohne Weiteres ablegen.
Gleichzeitig gilt es die durch die Krise nun offensichtlich zu Tage tretenden Produktivitäts- und Effizienzdefizite in den Organisationen zu beheben. Viele Unternehmen hatten in den guten Jahren bürokratischen und prozeduralen Speck angesetzt. Jetzt heißt es, sich für die mageren Jahre fit zu machen. Mit anderen Worten auch: Innovative Verfahren und Produkte entwickeln.
Nur ohne die Kreativität und Motivation der Mitarbeitenden wird das nicht gehen. Natürlich darf man nicht blauäugig sein. Ohne Strukturwandel und dadurch versursachte Personalanpassungen wird sich das sicherlich nicht umsetzen lassen. Aber gerade deshalb heißt es nun, verantwortungsvolle Führung und partizipative Unternehmenskulturen neu zu denken. Und damit auch Haltung und Verantwortung neu zu definieren.
Diese Gedanken sind als ein Weckruf gedacht. Mehr nicht, sorry. Angesichts der Größe, der Dramatik und der Vielschichtigkeit der Krise wäre es unseriös, eine einfache und/oder schnelle Lösung zu präsentieren. Aber es soll verhindern, dass wir weiter schlafwandlerisch auf die nächste Krise zu steuern und dem Abgrund entgegen taumeln.
Kommentare
Moin, es gibt eine Volksweisheit dazu: der Mensch ist ein Gewohnheitstier, doch weiter kommt man ohne ihr. In der Tat wird man mit der Vogel-Strauss-Politik und dem Kopf im Sand den Anforderungen nicht gerecht werden. Die Komfortzone wird künftig enger gesteckt sein und der Aktionsradius ebenfalls. Solange der Speck hält, wird man den Gürtel nicht enger schnallen wollen. Das Schlimmst ist die Verdrängung der Zeichen an der Wand! Denn: Einsicht ist der erste Weg zur Besserung. Wie wär’s mal mit Besinnung auf das Wesentliche?
Verdrängung ist ein schneller, gut geölter Reflex bei Menschen, um sich Problemen oder aufgaben zu entziehen. Und in der Tat ist die Beibehaltung von Gewohnheiten auch in Organisationen mit die größte Hürde bei Veränderungen. Deshalb fordert zum Beispiel ein Unternehmen wie HILTI sogar in seinen Leitsätzen ausdrücklich das Verlassen des „Circle of Habits“. Aber einfacher geschrieben als umgesetzt. Aber können wir uns angesichts der vielen Probleme auf unserem Globus diese Komfortzone überhaupt noch erlauben: finanziell, wirtschaftlich und moralisch. Wie bekommt man die Menschen auch aus diesem Modus raus: „Gern die anderen, aber bei mir nicht!“ Also, die Herausforderung, wie kann man lernen, sich kontinuierlich auf das Wesentliche beziehen und nicht nur für den Augenblick der Krise? Danke für die Anregungen …