Gib´ mir ein V …. Gib´ mir ein U … oder Krisenmanagement by Buchstabensuppe (Teil 8)
„Wenn Krisen ehrlich machen …“ – es war nicht nur der Titel unseres digitalen Camp Q – der Leadership-Konferenz für Querdenker am 16. Juni 2020. Wir als Team des Kompetenzzentrums haben es auch als Einladung an uns selbst verstanden, uns Gedanken zu unseren Gefühlen und Einschätzungen zur Coronakrise aus unterschiedlichen Blickwinkeln zu machen. Entstanden ist ein Kaleidoskop aus fachlichen Betrachtungen und persönlichen, oft einfühlsamen Eindrücken. Denn, diese Krise hat viele Gesichter. Aber vor allem verbergen sich dahinter Menschen … Mit mehreren Blogbeiträgen möchten wir nicht zuletzt dazu einladen, sich mit eigenen Gedanken zu beteiligen.
Mancher mag sich noch an eine TV-Sendung erinnern, bei der vor Jahrzehnten ein Kandidatenkreis einem Moderator Buchstaben zurufen musste und eine Assistentin bei richtiger Wahl dann an einer Art Kreuzworträtsel-Wand den Buchstaben umdrehte. Ein bisschen erinnert das an die aktuelle, fast schon inflationäre Nutzung von Abkürzungen wie ESG oder das mittlerweile unvermeidliche VUCA in Politik und Wirtschaft. Besonders auffällig ist die Verwendung von kryptischen Kürzeln im Rahmen der Diskussion um die Szenarien zum Ende der Coronakrise.
Kaum ein Experte, der sich nicht an den Buchstaben V U W L abarbeitet, kein Tag, an dem nicht einer dieser vier Buchstaben in irgendwelchen Medien kursiert. Mal ist ein V der Favorit für vollkommene und schnelle Erholung, dann wieder ein W für wackelige Aussichten, ein anderes Mal ein L für langandauernde Stagnation und Stillstand … was ja alles bei der Kombination V – W – L aus Perspektive eines Volkswirtschaftlers noch Sinn ergäbe, würde nicht die Einführung des ergänzenden U für die langsame Erholung diesen Reigen wieder sprengen.
Wenn so manche Experten mit diesen vier Buchstaben (warum eigentlich nur vier?) jonglieren, stellen sich doch einige Fragen: Warum ist ein V besser als ein U besser als ein L? Heißt nicht ein V oder U, dass man wieder dahin will, wo man quasi hergekommen ist oder schon mal war? Also zurück zum Ausgangspunkt? Zum Status quo. Bezogen z. B. auf die Nachhaltigkeitsdebatte: Wieder zurück auf den Wachstumspfad? Wäre nicht ein L genauso interessant, wenn es zwar auf einem niedrigeren Niveau weiterginge, dafür aber nachhaltiger und vielleicht sogar qualitativ besser?
Und seien wir mal ehrlich: Die vier Buchstaben passen eben wunderbar in das Bild, was wir uns von der Welt machen. Sie sind plakativ für die Wege aus der Krise, wie wir sie uns wünschen oder vorstellen wollen. Aber symbolisieren dann die Buchstaben die Szenarien, oder passen wir die Szenarien den Buchstaben an? Denn es gibt ja noch einige andere Buchstaben, nur käme wohl niemand auf die Idee, ein M für mögliche Entwicklungen vorzuschlagen? Vielleicht ist jemandem sogar ein J sehr sympathisch? Ganz zu schweigen wohl von einem I ….
Also, was sagen diese Abkürzungen oder irgendwelche anderen Synonyme eigentlich aus? Sind sie überhaupt noch nützlich. Immerhin ist es ja nicht gänzlich neu, diese Buchstaben nach Krisen zu nutzen. Wurden sie doch unter anderem schon nach der Finanzkrise für Trendbestimmungen verwendet. Und fanden sich schon damals standardmäßig fast in jedem Artikel von Personen, die etwas auf sich hielten. Bieten diese Klassifikationen also einen Mehrwert oder ist sie gut gemachte Buchstaben-Kosmetik?
Bereits mein Kollege Jörg Habich wies in seinem Blog „Krisenmanagement und Corona – Wenn der Schwarze Schwan zuschlägt“ daraufhin, dass die Coronakrise sicherlich nicht der letzte Schwan sein wird, der uns begegnen wird. Es werden noch viele rote, blaue, gestreifte etc. Schwäne folgen. Ist dann die Szenario-Technik nicht irgendwie überholt, sozusagen ein Instrument der Vergangenheit, mit dem man nicht mehr auf die Herausforderungen der Zukunft reagieren kann? Populär geworden ist das Tool in den 70er-Jahren u. a. durch die Anwendung beim Unternehmen SHELL – also vor 50 Jahren im vorherigen Jahrhundert.
Damals war die Welt aber noch eine andere. Aus heutiger Sicht für manchen vielleicht sogar ein wenig geordneter. Globalisierung und Digitalisierung waren noch nicht so fortgeschritten. Jetzt offenbart die Szenario-Technik aber durchaus Nachteile, gerade bei der Bewertung von Zukunft. Denn (1) enden viele Ergebnisse automatisch in den drei bis vier Schubladen: „es geht gut aus“ oder „es geht schlecht aus“ oder die Mittelwege „es geht gerade noch mal gut“ oder alternativ „wird nicht ganz so schlimm“.
Und (2) ist die Rechnung mit und Bewertung durch Wahrscheinlichkeiten zum Eintritt von Ereignissen verzerrend bzw. irreführend. Denn die Wahrscheinlichkeit, dass etwas eintritt oder nicht eintritt, ist prinzipiell erst einmal 50:50! Es steht fifty-fifty, dass das Marmeladenbrot auf die Marmeladenseite fällt, ob ein Politiker ins Amt gewählt wird oder nicht: fifty-fifty, die Chancen des Austritts irgendeines Landes aus der EU stehen 50:50 ….
Was man eigentlich nur weiß, ist, dass es bei allen Buchstaben am Anfang erst einmal nach unten geht: beim V wie beim W wie beim U oder L. Danach liegt alles im „Nebel der Unsicherheit und Ungewissheit“. Geht es noch weiter runter? Wann kommt ein Turnaround? Wie sieht er aus? Ist es vielleicht sogar eine Mischform aus einem U und einem L? Oder gar eine Neukreation? Was wäre, wenn andererseits in Griechenland beim Γ sogar erst der Aufschwung vor dem Plateau kommt.
Allein diese kleinen Buchstabenspiele wie damals bei der Buchstabensuppe in unserer Jugend zeigen, dass es nicht so einfach ist, Zukunft vorherzusagen. Bleibt nur ein Fazit: Man muss nicht nur in diesen unruhigen Zeiten auf Sicht fahren. Diese Erkenntnis wird wohl das Management in Zukunft begleiten, weil man nicht weiß, was kommt … oder was oder wer geht. Prognosen bleiben ungewiss. Insbesondere, wenn sie sich auf die Zukunft beziehen. Wie sagte Mark Twain schon so schön: „Voraussagen soll man unbedingt vermeiden, besonders solche über die Zukunft.“
Bleibt die Frage: Was tun? Nicht nur Entscheidungsträger, sondern auch Normalsterbliche müssen in Zukünften denken und sich viele Entwicklungen und Disruptionen ausmalen können. Am Ende bleibt nur, dass Undenkbare zu denken – auch wenn das natürlich schwer ist, weil ja undenkbar. Was aber damit gemeint ist, ist der Prozess, sich und/oder anderen immer wieder Fragen zu stellen – seien sie auch noch so abwegig. In unseren Camp Q – der Leadership Konferenz für Querdenker und in unseren Executive Trainings für „Next Leaders“ haben wir damit hervorragende Erfahrungen gemacht. Es hat sich bewährt, den Teilnehmenden durch gezielte Fragen Denkanstöße zu geben, zum Querdenken und zur Selbstreflexion zu animieren.
Ausgangspunkt sind immer Fragen: „Was wäre, wenn …“! Nur Vorsicht: Es reicht nicht ein „Warum“. „Warum“-Fragen führen laut dem Neurowissenschaftler Ernst Pöppel zu einer Art Monokausalitis und engen möglicherweise am Ende den Blick wieder zu sehr ein.
So berichtet einmal der ehemalige CEO des Insulin-Herstellers Novo Nordisk, dass er vor Jahren in einer Führungskräfte-Klausur die Frage stellte: „Was wäre, wenn morgen eine Gentherapie gegen Diabetes existierte?“. Damals undenkbar. Für viele auch einfach unvorstellbar. Aber die Irritation war zumindest vorprogrammiert, denn nun realisierten viele Führungskräfte, wie dünn das Eis in ihrem Geschäftsmodell und mit ihrem Produkt durchaus sein kann: „Dann wären wir nämlich blank!“
Deshalb ist es für Entscheidungsträger in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft so wichtig, so oft wie möglich, die Frage „Was wäre, wenn …“ zustellen. „Was wäre, wenn die Niederlande die EU verlassen?“ Undenkbar? „Was wäre, wenn Künstliche Intelligenz Vorstände oder Aufsichtsräte überflüssig machen würden?“ Undenkbar? „Was wäre, wenn Corona nur der Auftakt für immer neue Mutationen ist?“ Undenkbar? „Was wäre, wenn ein deutsches Bundesland seine Unabhängigkeit erklärt und aus der EU austritt?“ Undenkbar?
Das braucht aber eine Unternehmenskultur, in der Fragenstellen ausdrücklich erwünscht ist und nicht bestraft wird. In der das Fehlermachen erlaubt ist, um daraus zu lernen. In der Menschen nicht beschämt werden, weil sie sich getraut haben, Out-of-the-Box zu denken und ihre Meinungen frei zu äußern und querzudenken. Natürlich sind bunte Charts mit hübschen Grafiken und Tabellen oft schöner und eingängiger und schinden mehr Eindruck. Aber die wiegen oft in trügerischer Sicherheit.
Also, die unangenehme Nachricht: Szenarien bilden zukünftige Realitäten oder reale Zukünfte in Zeiten immer gravierenderer, schnelllebiger Veränderungen nicht mehr ab. Wahrscheinlich haben sie das auch noch nie. Die gute Nachricht: Szenario-Techniken schaden aber auch nicht. Aber wer als Führungskraft sein Unternehmen zukunftsfähig machen will, muss sich unbequemen, unorthodoxen Fragen stellen oder sich diese gefallen lassen. Ja, Führungskräfte müssen sie sogar von Mitmenschen inner- oder außerhalb ihres Unternehmens geradezu herausfordern. Sie müssen das Querdenken zulassen.
Sich diese Buchstabensuppe selbst einzubrocken, lohnt sich. Sonst muss man ganz andere Dinge „auslöffeln“. Bleibt also noch die Frage: „Was wäre, wenn sie diesen Blog nicht gelesen hätten …?
Weitere Blogbeiträge zur „Coronakrise“ finden Sie hier:
Teil 1 „Opa, wie war das noch damals mit dieser Krise …“
Teil 2 „Krisenmanagement und Corona – Wenn der Schwarze Schwan zuschlägt“
Teil 3 „Wie ich die Coronakrise wahrnehme …“
Teil 4 „Gibt es DIE Corona Zeit? Hier ist meine.“
Teil 5 „Das Ding mit dem Homeoffice …“
Teil 6 „Meine Erfahrungen aus der Zeit in der Coronakrise“
Teil 7 „Ein Virus verändert Alles …“
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